Der Eid der Heilerin
Moss schob sich neben Anne und lächelte grimmig. »Der König hat Recht. Erlaube mir, dass ich dich auf die Barke geleite.«
Waren die Stufen so rutschig, oder gaben ihre Beine nach? Anne war froh über den Arm des Doktors, als sie mit unsicheren Schritten über den Steg zur Königsbarke ging. Der stürmische Augenblick ging ihr nicht aus dem Kopf: Edwards Mund war so nah gewesen, dass sie gedacht hatte ... ja, was? Dass er sie küssen würde? Hatte sie tatsächlich diese Absicht in seinen Augen gelesen? Schrecken und Wonne sickerten durch ihren Körper, und sie schloss einen Moment lang ihre Augen. In der Ferne grollte Donner. Bald würde der Regen einsetzen, und die Reise nach Windsor würde kalt und unwirtlich werden. Anne jedoch schwitzte, und ihr Herz raste, als wäre sie den ganzen Weg vom Palast bis zum Kai gerannt.
Die Königin, die von Hastings auf die Barke geleitet wurde, fragte sich, was der plötzliche Lärm hinter ihr zu bedeuten hatte, doch in diesem Augenblick erschien der König an ihrer Seite. »Nichts, mein Liebes. Eine deiner Dienerinnen ist beinahe ins Wasser gestürzt. Dummes Ding.«
Doktor Moss hatte Anne kaum auf die Barke gebracht, als die Bootsleute ungeduldig die Leinen losmachten und ihre bunt bemalten Ruder ins kalte Wasser des Flusses tauchten. Der Hof zog flussaufwärts in Richtung Windsor.
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Kapitel 22
Die höfische Weihnachtssaison in Windsor wurde immer mit viel Prunk begangen. Heiligabend rückte näher, und jeden Tag ging der König auf die Jagd, um für seine Untertanen einen Hirsch fürs Weihnachtsfest zu schießen. Es war ein uralter Brauch: Im grünen Wams ritt der von Gott gesalbte König, umgeben von seinen Rittern, durch die tiefen Wälder und jagte den König des Waldes und der Berge. Das Laub dämpfte die Hufschläge der Pferde. Nach jedem Abschuss ritt er auf seinem Jagdross zurück, den erlegten Hirsch auf ein zweites Ross gebunden, das er eigenhändig am Zaum führte - eine Ehrbezeigung des einen Monarchen gegenüber dem anderen.
Die Tage wurden kürzer, und die rote Sonne versank immer tiefer hinter dem schwarzen Waldrand. Die Wärme und die fröhliche Stimmung im Schloss boten Schutz gegen die für diese Jahreszeit so typischen kalten Winde, die Graupelschauer und den Regen.
Sämtliche Schlossbewohner freuten sich auf Weihnachten. Die langen Winternächte und üppigen Gelage mit Wildbret und Wein führten zu einer zügellosen Ausgelassenheit unter den Menschen am Hof, die sich, entgegen den Ermahnungen der Pfarrer, der alten Bräuche und wilden Sitten aus heidnischen Tagen besannen. Der König und die Königin waren jung, ebenso wie die Mehrzahl der Höflinge. Und was gab es im Winter für junge Leute Besseres zu tun als zu feiern?
Aus dem gesamten englischen Königreich trafen Magnaten mit ihrem Gefolge ein, und mit jedem Tag wurde das Leben auf Windsor bunter. Anne jedoch war ruhelos und schlief schlecht. Nachts wurde sie von hitzigen Träumen und Ängsten geplagt. Was immer sie auch tat, ob sie schlief oder wachte, nie ging ihr der König aus dem Kopf. In ihren Träumen sah sie sein Gesicht, wand sich unter der Berührung seiner Hände und erwachte schweißgebadet und voller Gewissensbisse. Und tagsüber musste sie zwangsläufig in den großen Sonnenzimmern zugegen sein, wo Elizabeth sich die meiste Zeit aufhielt und die der König häufig aufzusuchen pflegte.
Besonders gern erschien Edward zur morgendlichen Ankleidezeremonie. Während die Königin gebadet wurde, saß er hinter einem Paravent und scherzte mit sämtlichen Anwesenden, den Hofdamen als auch den Dienerinnen. Die Stimmung war sehr entspannt, und die Frauen in Elizabeths Begleitung wetteiferten um seine Aufmerksamkeit. Ausgenommen Anne. Sie schlug die Augen nieder und sorgte dafür, sich möglichst auf der anderen Seite des Zimmers aufzuhalten.
Am Thomastag, vier Tage vor Weihnachten, war die Schwangerschaft der Königin so weit gediehen, dass sie dem Hof offiziell bekannt gegeben werden konnte. Der König ließ ein Hochamt für Mutter und Kind abhalten, um seiner Freude und Zufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Beim anschließenden Abendessen wurde verkündet, dass im neuen Jahr zu Ehren des Kindes ein Turnier stattfinden sollte, an dem Edward persönlich teilnehmen würde. Er, Hastings und elf weitere, ausgesuchte Ritter sollten dieselbe mystische Zahl bilden wie der Herr und seine Jünger und gegen eine vom Grafen Warwick angeführte Ritterschar antreten.
Nach anfänglichem
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