Der Eid der Heilerin
werden sie gewiss nicht lange ausbleiben.«
Sie führte das Mädchen aus dem warmen Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Im Flur war es bitterkalt, da durch ein schadhaftes Fenster ein eisiger Wind hereinblies.
Sie gelangten zum Eckturm in der Nähe der Gemächer der Königin, wo sich die Schlafstube der Mädchen befand. Jehanne öffnete die Tür, und Anne war ausnahmsweise froh darüber, dass das Zimmer so klein war. Es gab sogar ein Kohlenbecken mit ein paar glühenden Kohlen darin, so dass es nicht völlig ausgekühlt war. Jehanne schlug einen Feuerstein und zündete zwei Ollämpchen an, die die winterliche Düsternis des Zimmers kaum aufzuhellen vermochten.
»Nun, Anne, ich sehe, dass dich etwas bedrückt. Ich werde dir etwas von dem Mittel einflößen, das Doktor Moss mir gegen die Winterkrankheiten gegeben hat. Du brauchst etwas zur Stärkung. Wo ist es denn ...«
Während die alte Frau geschäftig nach der Medizin suchte, überlegte Anne, wie sie ihr sagen könnte, was sie wusste. Doch zugleich wurde ihr klar, dass Jehanne, wenn sie ihr ihre Gefühle für den König anvertraute, dafür sorgen würde, dass sie niemals mehr in die Nähe des Königs käme. Anne schloss die Augen angesichts dieses unerträglichen Gedankens.
»Hier ist sie ja.« Mit einer triumphierenden Geste hielt Jehanne eine Keramikflasche in die Höhe und zog den Stoffpfropfen heraus. »Hier, aber nur zwei Schlucke.« Anne brachte die bittere Flüssigkeit aus der kleinen Flasche nur mühsam hinunter. »So, und nun erzähl.«
Anne seufzte und schloss die Augen, während die Bilder vor ihrem geistigen Auge aufflammten. »Letzte Nacht war ich in der Kapelle ...«
»In der Kapelle, aber ...«.Jehanne unterbrach sich. Am besten sollte das Mädchen selbst erzählen. »Sprich weiter. Du warst in der Kapelle ...«
»Ja, und ich sah den Grafen Warwick und ... den Bruder des Königs, den Herzog von Clarence ...« Und dann berichtete sie von dem Treffen, das sie belauscht hatte, von dem drohenden Verrat und der feindseligen Haltung Georges gegenüber seinem Bruder. Als sie geendet hatte, wiegte sich Anne wie ein verängstigtes Kind vor und zurück.
Jehanne schwieg und dachte nach. Anne sagte offensichtlich die Wahrheit, und der König musste auf irgendeinem Wege gewarnt werden. Aber wie, ohne dass sie und Anne sich in Lebensgefahr begaben? »Ich denke, ich werde mit Lord Hastings sprechen - doch ich fürchte, er wird auch mit dir sprechen wollen.«
Anne war nicht dumm. Sie hörte die unterschwellige Angst in Jehannes Stimme und wusste, dass das, was sie belauscht hatte, in der überhitzten Atmosphäre des Hofs mit seinen rivalisierenden Parteien möglicherweise zum Zündfunken werden konnte. »Oh, wäre doch Deborah hier, sie wüsste, was zu tun wäre«, flüsterte sie.
Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann fragte Jehanne mit seltsam erstickter Stimme: »Deborah?«
Anne, die all ihren Mut zusammennahm, um Jehanne vom zweiten Teil der Nacht zu erzählen, bemerkte den eigenartigen Tonfall nicht. »Deborah ist meine Ziehmutter. Sie hat mich aufgenommen, nachdem meine Mutter bei meiner Geburt gestorben war. Sie hat mich aufgezogen.«
Jehanne starrte sie an. Ihr Gesicht sah im fahlen Licht maskenhaft weiß aus, und die Intensität ihres Blicks hatte etwas Beunruhigendes. »Diese ... Deborah. Lebt sie noch?«
»Natürlich. Sie hat für mich die Stelle in Blessing House gefunden. Von ihr habe ich mein ganzes Wissen über Heilmittel und Kräuter.«
»Wo hast du früher gelebt, Mädchen?«
»Unser Haus steht in den Wäldern im Westen, unweit von Wales.«
»Und gibt es dort auch königliche Ländereien?«
»Ja. Eine alte Jagdhütte und ein Wildreservat. Aber Deborah hat erzählt, dass seit den Lebzeiten ihrer Mutter niemand vom Königshof dort gejagt hat. Nur die Wildhüter und ein Vogt kümmern sich um das Land. Sie haben uns immer in Ruhe gelassen.«
»Ja ...«, stieß Jehanne wie einen tiefen Seufzer hervor. Langsam stand sie auf, ergriff mit zitternder Hand eines der Öllämpchen und hielt es dicht an Annes Gesicht. »Dreh den Kopf, Kind. Jetzt auf die andere Seite. Und nun schau mir in die Augen.«
Gehorsam tat Anne wie geheißen. Tausend Fragen lagen ihr auf der Zunge, als Jehanne, scheinbar befriedigt, die Lampe wieder absetzte und Anne wortlos betrachtete. Das Schweigen schien eine Ewigkeit anzudauern. »Wie kann ich deine Ziehmutter erreichen, Kind? Kommt sie manchmal nach London?«
Anne blickte sie erschrocken an. »Muss
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