Der Eid der Heilerin
weil sie sich auf keine Behandlung einigen konnten. Er wollte sämtliche Ritzen zustopfen, um nichts von der möglicherweise giftigen Luft in ihr Zimmer zu lassen, und das Feuer schüren, damit Anne die Krankheit ausschwitzen könne. Deborah dagegen meinte, es sei besser, kräftig zu lüften, damit die frische Seeluft die schädlichen Dämpfe aus dem Zimmer trieb. Der im Flüsterton ausgetragene Streit war das Erste, was Anne hörte, als sie wieder zu sich kam. Sie musste lachen, auch wenn es eher einem schwachen Pfeifen glich.
Anne bemerkte nun zum ersten Mal, wo sie sich befanden. Es war ein winziges, dunkles Zimmer mit Kreuzgewölbe, dessen kleine Fenster mit Hornplatten verkleidet waren und dessen eine Ecke von einer großen Feuerstelle eingenommen wurde. Sie selbst lag zwischen sauberen, ungebleichten Leinentüchern in einem großen Kastenbett, das fest mit frischem Stroh ausgepolstert war. Sie wollte den Kopf heben, doch die Anstrengung war zu viel für sie, so dass sie sich erschöpft und schwindelig wieder zurückfallen ließ.
Am nächsten Tag wurde sie erneut von wirren Träumen heimgesucht, aber sie ließ sich von Deborah wenigstens waschen - wieder gegen den vehementen Widerstand von Doktor Moss - und ihr verschwitztes Haar mit einer beruhigenden Rosmarinspülung erfrischen, die Deborah mit vorgewärmten Tüchern wieder trockentupfte.
Mit ihrer allmählichen Genesung kehrte auch ihr Sinn für die Wirklichkeit wieder, und sie erkannte, dass sie Pläne für ihre Zukunft schmieden musste. Bei ihrer Abreise aus London hatte sie für sich selbst nichts verlangt. Mathew Cuttifer hatte jedoch dafür gesorgt, dass Leif Mollnar sie in Dover mit der Lady Margaret erwartete.
Als Anne eine Bestandsaufnahme ihrer Lage machte, kehrte auch ihr Optimismus allmählich zurück. Über ein Jahr lang hatte sie von einem Tag auf den anderen gelebt, ohne ernsthaft an die Zukunft zu denken. Sie hatte sich lediglich auf ihren gesunden Verstand, ihre Bildung und ihre Heilkenntnisse verlassen, die Deborah ihr mit auf den Weg gegeben hatte.
Sie war eine Frau geworden, und sie war die Tochter eines Königs, doch sie war keine dieser vornehmen Damen, und sie war froh darüber. Sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, machte ihr keine Angst. Sie und Deborah könnten ihre Heilkenntnisse nutzen und Kranke heilen. Sie könnte auch Schönheitsmittel herstellen, und wenn die Not zu groß würde, könnte sie immer noch als Näherin arbeiten. Mathew Cuttifer hatte ihr einen Brief an seinen Verwalter in Brügge mitgegeben und ihm aufgetragen, ihnen in seiner Handelsniederlassung ein sicheres Zuhause zu gewähren, solange sie es für notwendig erachteten oder wünschten.
Und sie besaß die Kleider. Sie waren sehr wertvoll und ließen sich zur Not verkaufen. Bei diesem Gedanken jedoch verspürte sie einen Stich, denn sie war jung und liebte schöne Kleider. Genauso schwer würde es ihr auch fallen, sich von der Topasbrosche zu trennen, die Jane Shore ihr geschenkt hatte, oder von dem kleinen Filigrankreuz, dem Geschenk von Lady Margaret. Doch im Augenblick war das nicht nötig. Mathew hatte ihr eine gut gefüllte Geldkatze mitgegeben, die Lage war also nicht hoffnungslos. Sie und Deborah hatten genug Geld, um zu überleben und von vorn anzufangen. Nun musste sie nur noch gesund werden und mit Leif nach Frankreich segeln.
Ihre Grübelei wurde von Doktor Moss unterbrochen, der ins Zimmer stürmte. »Schnell, zieht Euch etwas über!«
Anne wunderte sich über die hektische Betriebsamkeit, die nun ausbrach. Das Tuch, das sie über ihrem feinen Seidennachthemd trug, wurde ihr von der Schulter gerissen und durch einen samtenen Mantel ersetzt. Deborah zog sie auf die Füße und versuchte gleichzeitig, ihr Haar auszubürsten.
»Deborah - au! Hör auf! Was ist in dich gefahren ...« Sie unterbrach sich, als sie von draußen das Geräusch von Stiefeltritten und Sporen vernahm.
Sie kannte diese Schritte, kannte den Mann dazu. Sie zog den Mantel um sich und musste sich setzten, da ihre Knie nachzugeben drohten.
Die Schritte verstummten. Nach einem kurzen Zögern ertönte ein Klopfen, dann hörte sie die Stimme eines Mannes: »Anne?«
Die Tür ging auf, und vor ihr stand der König in einem lehmbespritzten Reitmantel. Er hatte einen scharfen und schnellen Ritt von London hinter sich. Wortlos sah Anne zu Deborah, die ihre Hand tätschelte und leise das Zimmer verließ.
»Sire ...« Anne wollte sich aus ihrem Stuhl erheben, wollte ihm als
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