Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
Tasche. Das Telefon, das auf der Intensivstation ausgeschaltet bleiben musste, braucht einige Sekunden, bis es auf Empfang ist. Die Mutter ist auf der Arbeit, im Büro, redigiert vielleicht ein Anschreiben. Noch vor dem dritten Klingeln meldet sie sich. Als hätte sie auf seinen Anruf gewartet.
Ich bin im Krankenhaus.
Im Krankenhaus? antwortet sie – erschrocken, aber nicht berührt.
Fil hat einen Kollaps gehabt. Sie haben ihn ins Koma gelegt.
Ins Koma?
Und Daniel muss von der Fibrose erzählen, den Maschinen, dem grauen Gesicht des Vaters, der Transplantation. Er sagt: Spenderorgane , im Plural.
Er weiß, dass Conny sich nicht in diese Geschichte verwickeln lassen will.
Sie war mit dem Vater nie zusammen, Daniel das Ergebnis einer flüchtigen Affäre. Trotzdem fragt sie: Soll ich kommen?
Sie müsse doch arbeiten.
Sie könnte sich frei nehmen.
Für einen Augenblick schweigen sie.
Sie habe nie einen Gedanken daran verschwendet, mit Fil zusammenzuwohnen, hat die Mutter einmal behauptet.
Die Maschinen machen einen fertig, setzt Daniel erneut an. Fil ist vor lauter Schläuchen gar nicht zu erkennen …
Mir tut das so leid für dich.
Für mich , denkt Daniel.
Erneutes Schweigen.
Ob er am Wochenende nicht nach Hause kommen möchte.
Und Daniel denkt an die hydraulische Pumpe, die das Blut bewegt. Wieso sollte er ausgerechnet jetzt nach Göttingen fahren? Will die Mutter nicht, dass er bei Fil ist? Beim Vater ist, bevor der Vater stirbt?
Oder sie komme zu ihm, schiebt sie hinterher.
Sie verstummen, er verabschiedet sich.
Eigentlich war klar, dass sie so reagieren würde, so oder so ähnlich.
Trotzdem ist er enttäuscht.
Er verlässt die Eingangshalle. Vor dem Krankenhaus setzt er sich in ein Café und lässt sich Tee bringen . Diesmal blickt ihn die Bedienung nicht verwundert an, als er Tee bestellt, Darjeeling . Die Umhängetasche, das Werbegeschenk eines Mobilfunkunternehmens, legt er auf den Aluminiumstuhl neben sich, nimmt den Umschlag in die Hand, öffnet ihn, faltet das Papier langsam auf, andächtig, als handele es sich um ein Testament, vielleicht ist es das ja auch.
»Für Daniel.«
Der Brief ist nicht besonders lang:
»Lieber Dani, sorry, dass ich ausgerechnet jetzt krank geworden bin. Ich hätte Dich gern richtig kennengelernt. Soll heißen, ich hätte gern gehabt, dass wir uns besser kennenlernen. Die Möglichkeit einer Transplantation habe ich Dir verschwiegen, um Dich mit meiner Krankengeschichte nicht zubelasten. Es wäre nicht besonders angemessen, wenn ausgerechnet Du Dich um meine Probleme kümmern müsstest.
Ich hätte Dir eine Menge zu erklären. Im Prinzip weißt Du's natürlich: Conny wollte nie, dass Du länger bei mir bleibst. Sie meinte, mein Leben wäre für ein Kind zu chaotisch. Wahrscheinlich hatte sie recht. In meinem Leben war in den achtziger und neunziger Jahren viel los, zu viel, was für Kinder nicht gut ist. Außerdem haben wir geglaubt, es sei nicht so wichtig, wer der leibliche Vater ist; dass viel entscheidender ist, mit wem man aufwächst, sozialisiert wird, und Conny und Gerd waren ja immer da, eine richtige Familie.
Natürlich gäbe es noch mehr zu erzählen, viel mehr, aber das passt nicht in einen Brief, ich müsste zu viel erklären. Vielleicht können wir das nachholen, bei einem Bier – oder bei Darjeeling …
Du brauchst Dich um nichts zu kümmern. Ich hab' bei einem Freund eine Vollmacht hinterlegt. Es gibt allerdings EINE Sache, über die ich mich freuen würde: Meine Wohnung steht leer. Ich will sie nicht aufgeben, sie ist ziemlich billig. Vielleicht hast Du Lust einzuziehen. Die Miete wird per Dauerauftrag abgebucht, auf dem Konto liegt Geld für über ein Jahr. Selbst wenn alles gut läuft, werde ich noch lange im Krankenhaus und auf Reha sein. In der Wohnung ist Platz für zwei, drei Leute und sie liegt wirklich schön. Würde mich freuen, wenn Du sie nimmst. Den Schlüssel habe ich bei einem Freund hinterlegt. Nicht wundern: Er heißt Beule – Relikt aus den Achtzigern. Wenn Du die Wohnung nicht willst, sag ihm Bescheid, dann sucht er jemand anderes.
Hoffentlich bis bald – oder eines Tages in den ewigen Jagdgründen. Fil. «
Daniel hebt den Blick, schaut durch die Scheibe der Krankenhaus-Cafeteria, denkt: Er will sein schlechtes Gewissen loswerden, will das Gefühl haben, etwas für mich getan zu haben, und plötzlich hat er ein Bild vor Augen: ein dunkler Hausflur, in dem es nach Hundepisse riecht, eine Rückkehr in die
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