Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
Sandbank, dem Uferstreifen im Schilf, dem weit entfernten Hundebellen auf der anderen Seite, und doch sind sie immerhin an einem See, hat Dem immerhin einen See für ihren Ausflug gewählt; als wollte sie ihm etwas mitteilen, will sie ihm etwas mitteilen? Als rufe sie gezielt Erinnerungen auf.
Bei ihm?
Bei sich?
Eine ganze Weile laufen sie so am Wasser entlang, auf den purpurfarbenen Himmelsstreifen zu, und Daniel fällt das Wort Limbus ein, Zwischenraum, nicht Paradies, nicht Hölle, eine Schwelle, er weiß nicht, wohin, ein Zwischenzustand, der sich nicht schlecht anfühlt. Wortlos gehen sie nebeneinanderher, auf das Licht zu, diffundierendes Sonnenlicht, das jetzt, im Herbst, keine richtige Kraft mehr entfaltet, aber auch endlos braucht, um ganz zu erlöschen, geht neben der Frau her, ihre Locken, Korkenzieherlocken, fallen unter der Mütze hervor, auf der Roots steht, Roots wie die HipHop-Band, und federn dabei ein bisschen. Er wünscht sich, der Zustand könnte ewig anhalten, der Zustand stechend klarerUnbestimmtheit, am Abgrund und gleichzeitig weit dahinter, er könnte endlos neben der Frau hergehen, denn alle Sinne, denkt er, sind seltsam geschärft, als hätten sie wochenlang ausruhen können, als öffne sich die Wahrnehmung überhaupt zum ersten Mal in seinem Leben: Es riecht nach feuchtem Laub, im Waldstück auf der anderen Seeseite heult eine S-Bahn beim Anfahren, eine elektrische Heckenschere surrt sich durch dünnes Geäst, Schwäne treiben, fast lautlos, über das Wasser, durch eine undichte Stelle im Schuh sickert Feuchtigkeit ein. Und er riecht Dem, ihr Parfüm, Hugo Boss.
Vielleicht ist dieser Zustand der Unbestimmtheit, die Schwelle, der Limbus, in Zeiten, in denen es keinen Ausbruch mehr gibt, weil selbst der Ausbruch Teil des Pflichtprogramms ist, das Höchste, was man erwarten darf, die einzige Möglichkeit, etwas Eigenes, Unerwartetes zu tun. Schwelle, denkt Daniel, Limbus, ein Augenblick unverhofften Glücks.
Ein Windstoß streicht ihnen durchs Gesicht, Scheinwerferkegel tauchen kurz zwischen Baumstämmen auf und verschwinden, Tropfen fallen aus welkem Laub auf ihre Jacken und verfärben den Stoff.
Eine Schwelle wohin, fragt sich Daniel, als die Frau plötzlich unerwartet gut gelaunt, komm, sagt, ihn anlacht, wir gehen was trinken, ihn an die Hand nimmt, seine Hand fest in ihre nimmt und nicht mehr loslässt.
Den ganzen Uferweg bis zur Gaststätte lässt sie ihn nicht mehr los, streicht ihm beim Gehen über die kalte, verschrumpelt rot-blaue Haut an der Hand, als berührten sie sich zum ersten Mal, als sei jede Begegnung eine Eröffnung. Lachend geht sie neben ihm her, und Daniel spürt, wie sie die Schwelle überqueren, auf der Schwelle verharren, erweiß nicht, wohin, und als sie sich schließlich vor der Gaststätte küssen, auf der anderen Seeseite, in der kalten, klaren, dunkler werdenden Luft, ist nichts mehr in ihm als das Gefühl ihrer Nähe, nichts mehr als eine eigenartige Ruhe, die er nicht kennt.
Dank
Melanie Lucas, Navid Thürauf, Laura Bierling, Friederike Schwalbe (Sibiu), Hark Machnik, Johannes Ullmaier, Uwe Timm & Thomas Meinecke
Quellen
Oskar Pastior, durch – und zurück. Gedichte , herausgegeben von Michael Lentz, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2007.
Jean-Luc Nancy, Der Eindringling/L'intrus. Das fremde Herz , aus dem Französischen von Alexander Garcia Düttmann, Berlin: Merve Verlag 2000.
Barbara Lukas/Sabine Stamer/Jürgen Jakoby u. a. (Hg.), Krefeld. Dokumentation 25. 6. 1983 , Hamburg: Hamburg Satz- und Verlagskooperative 1983.
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