Der einsame Baum - Covenant 05
gefangengenommen.«
Aber er hätte ebensogut blind und taub sein können. Er machte nicht einmal Anstalten, seine schlaffen Lippen vom Schmutz zu säubern, der an ihnen klebte. Sinnentleert reagierte er nur auf innere Regungen, die mit ihr, den Riesen und den Elohim in absolut keinem Zusammenhang standen.
»Rühr mich nicht an!«
Die Arme um Covenant geschlungen, drehte sich Linden Daphin zu, um ein letztes Mal an ihr Mitgefühl zu appellieren. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Doch Chant kam ihr zuvor. »Es ist genug«, sagte er streng. »Nun geht!«
Im selben Augenblick kehrte er die volle Statur seines Volkes heraus. Seine Haltung zeugte von Gewichtigkeit und Unversöhnlichkeit. Linden entfernte sich von ihm, ohne sich zu bewegen; aber während die Distanz zwischen ihnen wuchs, schien er in Lindens Blickfeld immer größer zu werden, so daß sich ihre Sinne verwirrten und ihr war, als stiege sie rücklings in die Höhe. Einen Moment lang leuchtete Chant wie die Sonne, sengte Lindens gesamtes Aufbegehren fort. Dann glich er der Sonne selbst, und Linden erhaschte einen Ausblick auf blauen Himmel, bevor das Wasser der Fontäne sie umschloß wie ein Übermaß an Tränen. Auf den steilen Seitenflächen des Kalktuffkegels verlor sie fast die Balance. Covenants Körpergewicht zerrte an ihr, und sie drohten beide erneut zu fallen. Aber sofort eilten Cail und Brinn durch die Sprühnebel zu ihrer Unterstützung heran. Das Wasser in ihren Haaren schimmerte, als wären sie – oder Linden – noch im Prozeß des Übergangs zwischen Elemesnedene und der außerhalb befindlichen Maidan begriffen. Durch die Plötzlichkeit des Wechsels war Linden schwummrig zumute. Sie mußte in der Helligkeit des Sonnenscheins um ihr Gleichgewicht ringen, während die Haruchai ihr und Covenant die Schräge hinunterhalfen, dann durch das Rinnsal, in dem sich das Wasser sammelte, auf trockenen Erdboden führten. Die Haruchai sagten nichts, ließen sich keine Überraschung anmerken; aber aus der Berührung ihrer harten Hände schrie ihre stumme Angespanntheit Linden regelrecht entgegen. Sie war es gewesen, die sie weggeschickt hatte.
Linden empfand die Sonne als unnatürlich grell. Ihre Augen hatten sich bereits an das verwaschene Licht in Elemesnedene gewöhnt gehabt. Mit Nachdruck rieb Linden ihr Gesicht, versuchte Wasser und Lichtempfindlichkeit loszuwerden, als lege sie Wert darauf, jede Andeutung von Tränen oder Weinen aus ihrer Miene zu entfernen. Aber da packte Brinn ihre Handgelenke. Er stand vor ihr wie der Inbegriff einer Anklage. Ceer und Hergrom stützten zwischen sich Covenant. Auch die vier Riesen waren jetzt aus der Mulde rings um die Fontäne zum Vorschein gekommen. Sie standen in halb benommener Gemütsverfassung im hohen, gelblichen Gras der Maidan , als wären sie gerade einem Traum entronnen, der kein Alptraum hätte werden dürfen. Die Erste umklammerte mit beiden Fäusten ihren Pallasch, aber die Waffe besaß keinen Nutzen. Pechnases Deformiertheit schien sich verstärkt zu haben. Seeträumer und Blankehans gingen mit steifen Bewegungen nebeneinander, verbunden durch gemeinsamen Schmerz. Doch Brinn ließ nicht zu, daß sich Linden umdrehte. »Welcher Harm ist dem Ur-Lord zugefügt worden?« wollte er mit ausdrucksloser Stimme wissen.
Linden wußte keine Antwort auf seinen vorwurfsvollen Blick. Sie spürte, daß ihre geistige Gesundheit in Frage stand. »Wie lange waren wir drinnen?« stellte sie ihrerseits eine irrelevante Gegenfrage und kam sich selber dabei wie eine Irre vor.
Brinn verwarf die Bedeutung ihrer Frage mit einem leichten Kopfschütteln. »Nur für die Dauer weniger Augenblicke. Kaum hatten wir unsere Bemühungen aufgegeben, nochmals in den Clachan einzudringen, da seid ihr zurückgekehrt.« Seine Fäuste hielten Linden unerbittlich wie Handschellen fest. »Welcher Harm ist dem Ur-Lord zugefügt worden?«
O mein Gott! stöhnte Linden bei sich. Covenant aufs schwerste beeinträchtigt. Hohl gefangen. Gaben verweigert. Nur für wenige Augenblicke?! Doch es stimmte; seit Lindens letztem Blick hinauf, bevor sie Elemesnedene betrat, hatte sich die Sonne kaum weiterbewegt. Daß so viel Leid in so kurzer Zeit geschehen sein sollte! »Laß mich los!« Ihre Forderung klang wie die Klage eines einsamen, furchtsamen Kindes. »Ich muß nachdenken.«
Zunächst ließ Brinn nicht von ihr ab. Doch da kam Pechnase an Lindens Seite. Seine entstellten Augen redeten Brinn in Lindens Namen gut zu. »Gib sie frei!« sagte er
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