Der einsame Baum - Covenant 05
wären nicht dazu in der Lage gewesen, seinen Verstand dermaßen zu entleeren, hätte ihn nicht sein tief verwurzelter Drang, alle Übel auf sich zu nehmen, ihnen entblößt. Aus dieser Quelle entstand sowohl seine Macht wie auch seine Wehrlosigkeit. Sie stattete ihn mit einer Würde aus, von der sie nicht wußte, wie sie ihr nacheifern sollte.
Doch Lindens Wille war bereits in die wohlbekannte Falle geraten. Es konnte kein Recht geben, keine vertretbaren Gründe, die es erlaubten, auf diese Weise, mit unerwünschten Ansprüchen, seine Integrität zu verletzen – und ebensowenig ein Recht oder einen gangbaren Weg, ihn einfach seinem Schicksal auszuliefern, ihn in seiner Not ohne jede Hilfeleistung zu lassen. Und weil sie diesen Widerspruch nicht zu beheben vermochte, hatte sie keine Antwort auf das finstere, grimmige Etwas in der Mördergrube ihres Herzens, das aufsprang angesichts dieser Chance, an Macht zu gelangen. Covenants Macht: die Gelegenheit, zum wahrhaftigen Richter über Leben und Tod zu werden. Angetrieben von heftiger Gier, stürzte sich Linden in ihn. Und die Nacht riß sie mit sich fort.
Für einige Zeit bedeckte die Nacht die ganze Welt. Sie schien ein jedes Firmament wie mit einem Sturm zu erschüttern; doch es war nichts Derartiges wie ein Sturm. Winde hatten Richtung und Geräusch; sie waren schwach oder stark, lau oder kühl. Diese Finsternis jedoch entbehrte all dessen, was Bezeichnungen gerechtfertigt, eine Beschreibung ermöglicht hätte. Sie ähnelte in ihrer Einsamkeit dem Abgrund zwischen Sternen, aber sie enthielt keine Sterne, die der Sinn eines solchen Abgrunds gewesen wären. Sie erfüllte Linden wie Gibbons Berührung, und sie blieb dagegen hilflos, hilflos ... Ihr Vater hatte den Schlüssel aus dem Fenster geworfen, und sie verfügte über keine Kraft oder hinlänglich starke Leidenschaft, um ihn von den Toten zurückzuholen. Die Dunkelheit wirbelte sie umher und hinab, wie ein Mahlstrom ohne Bewegung, ohne ihr irgendwelche Empfindungen außer einem Verlustgefühl zu bereiten; und aus ihrer Tiefe begannen Bilder aufzusteigen. Eine Gestalt, einer Inkarnation der Leere gleich, kam durch eine Wüste auf sie zu. Das Wallen von Hitze und Sinnestäuschungen machten sie verschwommen. Linden konnte nicht erkennen, wer das war; gleich darauf aber konnte sie es doch: Covenant. Er plagte sich anscheinend ab, um zu schreien, aber er hatte keinen Mund. Schuppen bedeckten sein halbes Gesicht. Seine Augen waren fiebrig vor Selbstabscheu. Die Marter von Lust und Grauen hatte seine Stirn fahl werden lassen. Der Gegensatz von Eifer und Furcht erschwerte seine Gangart; er bewegte sich, indem er sich näherte, direkt auf sie zuschwankte, wie ein Krüppel. Seine Arme waren zu Schlangen geworden. Sie wanden sich an seinen Schultern und zischten, ihre Mäuler klafften, bereit zum Zubeißen. Die Schlangenköpfe, die einmal seine Hände gewesen waren, besaßen spitze Fangzähne, weiß wie Bein. Linden war wie gebannt. Sie wußte, daß sie ihre Arme heben, sich zu verteidigen versuchen sollte; aber sie hingen an ihren Seiten wie Beweise der Sterblichkeit, zu schwer, um gegen das Verhängnis dieser Fangzähne erhoben werden zu können. Covenant wankte heran, drang auf sie ein wie all das Versagen, die Verbrechen und die Liebe ihres Lebens. Als seine Schlangen zubissen, stießen sie Linden in eine völlig andere Art von Finsternis.
Später hatte sie den Eindruck, von dicken Schlangenleibern umschlungen zu sein. Sie wimmerte und warf sich umher, um sich ihnen zu entwinden, aber es wollte ihr nicht gelingen. Ihre nutzlosen Hände waren in die Decke gekrallt, die Cail über sie gebreitet hatte. Die Hängematte beschränkte ihre Bewegungsfreiheit. Ihr war nach Schreien zumute, aber sie brachte keinen Laut hervor. Flüssigkeiten verstopften fatal ihre Kehle. Die Trübnis in ihrer Kabine wirkte auf sie so verheerend wie die Leere in Covenants Innerem. Doch da erkannte sie schlagartig die Sachverhalte ihrer Umgebung wieder. Ihre Kabine war es, in der sie sich befand, sie lag in der eigenen Hängematte. Die Luft war trüb von morgendlicher oder abendlicher Dämmerung, nicht der finsteren Leere, in die sie gestürzt war; der unklar erinnerliche Geschmack von Diamondraught in ihrem Mund war nicht der Geschmack des Todes. Die Kabine rundum war allem Anschein nach irgendwie in eine Schräge geraten, wie ein Haus, das sich infolge irgendeines Aufbäumens der Erde von seinen Grundmauern gelöst hatte. Als Linden das
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