Der einsame Baum - Covenant 05
der Brustwehr und warfen es hinab. Obwohl es in ihren Händen dünn wirkte, war es belastbar genug, um das Gewicht eines Riesen auszuhalten. Erst klomm der Kapitän, dann Seeträumer hinab in den blutigen Sand und zu Ceer. Cails Berührung drängte Linden vorwärts. Benommen ging sie zu dem Seil. Sie wußte gar nicht, was sie tat. Arm und Beine um das Seil verdreht, ließ sie sich vom eigenen Körpergewicht nach unten ziehen, Blankehans und Seeträumer hinterdrein.
Als sie den Erdboden erreichte, strauchelten ihre Füße im Sand. Hergroms Leichnam lehnte schlaff an der Mauer, klagte Linden stumm an. Sie war kaum dazu fähig, ihre wie nutzlosen Beine zu zwingen, sie zu Ceer zu tragen. Cail folgte ihr am Seil den Wall herab. Nach ihm kam Brinn, Covenant über seiner Schulter. Wie in einem Sausen eherner Anmut seilte sich die Erste ab. Hohl blickte über die Brüstung, als wolle er sich ein Bild von der Situation machen. Dann stieg auch er herunter. Zur gleichen Zeit erschien Findail als Geflimmer aus dem Sandwall und materialisierte zwischen den Gefährten.
Linden schenkte den anderen keine Beachtung. Sie sank an Ceers Seite auf die Knie, beugte sich über ihn und versuchte, das ungeheure Maß seiner Pein zu übersehen. Er sagte nichts. Sein Gesicht zeigte keine Art von Ausdruck. Von seiner Stirn jedoch rann Schweiß, als habe seine Qual die Form von Tröpfchen angenommen. Die Wahrnehmungen schienen Linden regelrecht anzuspringen. Ihre Augen, bedrängt von Sicht und staubiger Hitze, fühlten sich in den Höhlen wie Asche an. Ceers Schulter war nicht allzu schwer verletzt. Lediglich das Schlüsselbein war gebrochen – ein glatter Bruch. Aber sein Bein ... Herrgott. Das Fleisch von Oberschenkel und Knie war bloß noch mit Scherben und Splittern von Knochen durchsetzt. Durch die zahlreichen Wunden verlor der Haruchai beträchtliche Mengen Blut. Linden bezweifelte, daß er je wieder würde laufen können. Möglicherweise wäre das Bein, selbst wenn eine anständige Klinik, Röntgenapparate und medizinische Fachkräfte zur Verfügung gestanden hätten, nicht zu retten gewesen. Aber derartige Dinge gehörten der Welt an, die hinter ihr lag – der einzigen Welt, die sie verstand. Hier besaß sie nichts als die für alles anfällige Offenheit ihrer Sinne, die sie seinen Schmerz bis ins Letzte mitempfinden ließ, als wäre ihr Fleisch ein Kartogramm seiner qualvollen Verletzungen.
Linden stöhnte innerlich und schloß die Lider, enthob sich des Anblicks seiner Pein, seiner Tapferkeit. Er erfüllte sie mit Entsetzen – und er brauchte sie. Er brauchte sie. Und sie hatte ihm nichts zu bieten außer ihre präzisen, überreizten Wahrnehmungen. Wie sollte sie sich ihm verschließen können? Sie hatte sich Brinns Ansinnen verschlossen, und das hier war das Ergebnis. »Ich muß was zum Abbinden haben«, sagte sie gedämpft ins angespannte Schweigen ihrer Gefährten, und ihr war dabei zumute, als sei sie drauf und dran, nun alles, aber auch wirklich alles zu verspielen. »Und eine Schiene muß her!«
Sie hörte ein Reißgeräusch. Brinn oder Cail drückte ihr einen langen Streifen Stoff in die Hand. »Werft uns einen Speer herab!« hörte sie gleichzeitig die Erste Rire Grist zurufen.
Nach dem Tastgefühl wickelte Linden den Stoff oberhalb der Bruchstelle um Ceers Schenkel und verknotete den Streifen, zog den Knoten so fest an, wie sie konnte. Dann widmete sie sich zunächst seiner Schulter, weil deren Verletzung weit weniger schlimm war, und bat Cail um Unterstützung. Ihre Hände legten Cails Hände an die Punkte, an denen er mit der erforderlichen Kraft drücken und ziehen mußte. Während sie Ceers Schlüsselbein mit ihren Fingern ertastete, leitete sie Cail an und ließ ihn die zum Einrichten nötigen Bewegungen vornehmen. Gemeinsam brachten sie den Knochen in eine Lage, in der er ohne Komplikationen verheilen konnte.
Linden spürte, wie die Riesen sie aufmerksam und grimmig beobachteten. Aber ihr fehlte der Mut, um die Augen zu öffnen. Sie mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht aus mitempfundenen Schmerzen laut zu weinen. Ceers Pein drohte ihre Nerven zu zerfasern. Aber seine Notsituation duldete keinerlei andere Erwägungen. Cail und Brinn neben sich, richtete Linden ihre Aufmerksamkeit erneut auf Ceers Bein.
Sie befürchtete, während ihre Hände das Ausmaß der Verletzung untersuchten, die stummen Schreie in seinem Bein könnten ihre Schreie werden, sie um ihre mühsam beibehaltene Entschlossenheit bringen. Sie
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