Der einsame Baum - Covenant 05
berichtet worden war: die Bruchstellen waren glatt und saßen sauber aneinander. Die Knochen hatten schon zu heilen begonnen. Zufrieden nickte Linden und wollte wieder zu Covenant gehen. Doch Derbhand hielt sie auf. Sie blickte ihn forschend an. Seine Melancholie war zurückgekehrt. Einen Moment lang schwieg er, während er sie musterte. »Knolle Windsbraut will versuchen, Nicor zu rufen«, sagte er dann. »Das ist ein gefahrvolles Unterfangen.« Ein Zucken seiner Brauen verriet, daß er selbst sich mit seiner Gefährlichkeit auskannte. »Es möchte sich ergeben, daß es dringlich und sofort eines Heilkundigen bedarf. Windsbrauts Aufgabe ist's, Sternfahrers Schatz zu heilen – ihr selbst jedoch droht die größte Gefahr. Magst du nicht deinen Beistand antragen?« Er nickte in die Richtung zum Bug. »Gewiß täten die Haruchai dich in aller Eile verständigen, sollte Riesenfreund Covenant deiner bedürfen.«
Sein ernster Blick bewegte Linden. Die Riesen hatten die Fürsorge und Unterstützung, die sie ihr entgegenbrachten, bereits auf mancherlei Weise gezeigt. Nachdem sie sich den Fußknöchel gebrochen hatte, war sie von Seeträumer durch die ganze Sarangrave-Senke getragen worden. Und Pechnase hatte mehr als einmal versucht, ihr zu verdeutlichen, daß es in der Welt noch andere Arten des Lächelns gab als jenes fatale Lächeln, wie Covenant es Joan gewidmet hatte. Folglich begrüßte Linden die Gelegenheit, irgendeine Gegenleistung erbringen zu können. Und was Covenant betraf, war sie, wie die Dinge gegenwärtig standen, eindeutig von keinem Nutzen. Hohl verkörperte allem Anschein nach für ihn keine Bedrohung. Linden wandte sich an Cail. »Ich verlass' mich auf dich«, sagte sie. Seine knappe Verbeugung, mit der er ihre Äußerung bestätigte, ermutigte sie. Die Ausdruckslosigkeit seiner Gesichtszüge, so konnte man meinen, bedeutete das Versprechen, daß man seinesgleichen unter Ausschluß jeglicher Versäumnisse und Unzulänglichkeiten vertrauen durfte. Als sie das Achterkastell verließ, fühlte sie in ihrem Rücken, wie Derbhand aus Erleichterung nochmals ein wenig lächelte.
Linden überquerte zügig das langgestreckte Achterdeck, ging durchs Wohlspeishaus und zum Bug des Schiffs. Dort geriet sie in ein lebhaftes Gedränge und Gewimmel von Riesen. Die Mehrheit beschäftigte sich mit Verrichtungen, die sie nicht begriff; doch Pechnase bemerkte ihre Ankunft und trat an ihre Seite. »Du bist hier willkommen, Auserwählte«, versicherte er heiter. »Es könnte sein, daß du gebraucht wirst.«
»Das hat Derbhand auch gesagt.«
Pechnases Blick ruckte nahezu schmerzlich nach achtern, fiel wieder auf Linden. »Er spricht aus eigener Erfahrung.« In seinen mißgestalteten Augen entstand etwas wie eine Widerspiegelung der Traurigkeit des Ankermeisters. »Denn einst – vor vielleicht einigen kurzen Menschenaltern – fuhr Derbhand auf einem anderen Schiff, und auf demselben Schiff fuhr seine Gemahlin Meerschaum als Lagermeisterin. Ach, das ist eine Geschichte, die des Erzählens wert ist. Doch ich will sie in aller Kürze wiedergeben. Dies ist nicht die rechte Zeit für eine solche Geschichte. Und mich dünkt's, dich bewegen andere Fragen. Kurzum ...« Unvermittelt schnitt er eine Grimasse des Unmuts. »Stein und See. Auserwählte! Es grämt mein Herz, eine derartige Geschichte erzählen zu sollen, ohne daß ich ihr volles Maß auszuschöpfen vermöchte. Ich mag nicht glauben, daß jemand, der sich kurzer Reden bedient, sich fürwahr des Lebens freuen kann.« Doch da weiteten sich seine Augen, als verdutze ihn die eigene Aufgewühltheit, und er setzte wieder die gewohnte Miene auf. »Nichtsdestotrotz, ich beuge mich der Zeit.« Er vollführte vor Linden etwas ähnliches wie einen Salut, als lache er über sich selbst. »Also, in kurzen Worten, Derbhand und sein Schiff befuhren ein Meer, das wir Seelenbeißer heißen, dieweil's launisch und unberechenbar ist, und kein Schiff befährt es, ohne dafür diesen oder jenen Preis zu entrichten. Dort kam eine Flaute über das Schiff, so wie wir nun hier eine erdulden müssen. Viele Tage lang trieb das Schiff still auf dem Meer, und kein Lüftchen regte die Segel. Eine Verknappung von Trinkwasser und Nahrung entstand. Daher beschloß man, den Versuch zu wagen und Nicor zu holen. Als Lagermeisterin oblag diese Aufgabe vornehmlich Meerschaum, denn sie zählt zu den Fertigkeiten und Künsten, welche Lagermeister zu erlernen haben. Sie war eine Riesin, die jedermanns Herz
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