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Der einsame Baum - Covenant 05

Der einsame Baum - Covenant 05

Titel: Der einsame Baum - Covenant 05 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Donaldson
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warum du glaubst, Menschen sollten einander keine Geheimnisse anvertrauen? Weshalb du nicht wolltest, daß ich dir von Lena erzähle? Weil du befürchtet hast, ich könnte etwas sagen, das du nicht zu hören wünschst?«
    Daraufhin hätte sie am liebsten auf ihn eingeschrien wie ein außer Rand und Band geratenes Kind; aber sie blieb dazu außerstande. Wieder hielt ihre tiefere Wahrnehmung alles Guten und Gesunden sie zurück. Sie konnte ihre Augen nicht der Qualität seiner Betrachtungsweise verschließen. Noch nie hatte ein Mensch sie so wie er gesehen. Erschüttert wich sie zurück zum Sessel, sackte gegen die steinerne Rücklehne. »Linden«, begann Covenant erneut, so sanft wie es ihm in seiner rauhen Mattigkeit möglich war; aber sie unterbrach ihn.
    »Nein.« Sie empfand plötzlich Entmutigung. Er würde nie verstehen. Oder verstand bereits viel zu gut. »Nicht deshalb. Ich habe ihnen nicht verziehen, und es ist mir gleich, wer darüber Bescheid weiß. Es hat mich durchgebracht, als ich nichts anderes hatte. Ich halte ganz einfach nichts von derartigen Bekenntnissen.« Ihr Mund zuckte. »Das mit Lena zu wissen ist für mich nicht wichtig. Du warst damals anders. Du hast für deine Tat gebüßt. Was mich angeht, ändert sie nichts. Aber für dich. Jedesmal wenn du dich der Vergewaltigung bezichtigst, machst du sie wieder wahr. Du bringst sie in die Gegenwart zurück. Du erneuerst deine Schuld. Mit mir ist's das gleiche. Wenn ich über meine Eltern spreche. Obwohl ich erst acht war und mich mein Lebtag lang abgemüht habe, damit ich eine andere werde.«
    Daraufhin klammerte sich Covenant an den Rand der Hängematte, streckte sich in seiner Schwäche Linden ein wenig entgegen. »Du siehst das verkehrt herum«, antwortete er, als lege er es auf einen Streit an. »Du machst das mit dir. Du bestrafst dich für etwas, das zu verhindern gar nicht in deiner Macht stand. Du kannst dir selbst nicht vergeben, deshalb weigerst du dich, irgend jemand anderem zu verzeihen.« Lindens Blick ruckte in seine Augen; Aufbegehren und Erkenntnis verwirrten sich so in ihr, daß sie keinen Laut über die Lippen brachte. »Machst du nicht das gleiche, was Kevin getan hat? Belastest du dich nicht mit Selbstvorwürfen, weil du nicht jeder Bürde in der Welt gewachsen bist? Bringst du nicht in Gedanken deinen Vater um, nur weil du die Qual der Hilflosigkeit nicht ertragen kannst? Vernichtest du nicht, was du liebst, weil du es nicht retten kannst?«
    »Nein.« Doch. Ich weiß es nicht. Covenants Äußerungen wühlten sie allzu tief auf. Obwohl er nicht über ihre Art von sinnlicher Wahrnehmung verfügte, war er dazu befähigt, in ihr Inneres zu reichen, ihr ans Herz zu greifen. Die Wurzeln der Schreie, die sie um ihren Vater ausgestoßen hatte, schienen aus ihr hervorzuwuchern; und durch Covenant begannen sie sich zu winden. »Ich habe ihn nicht geliebt. Es kann unmöglich so gewesen sein. Hätte ich ihn geliebt, ich wäre nicht zum Weiterleben imstande gewesen.«
    Zu gerne wäre sie jetzt davongelaufen, hätte nach irgendeiner Möglichkeit gesucht, mit der sie ihre Einsamkeit schützen und bewahren konnte. Aber sie blieb. Sie war schon zu oft geflohen. Während sie zu Covenant hinaufstarrte, als wisse sie auf seine vielschichtige Einfühlsamkeit keine Antwort, nahm sie vom Tisch eine Flasche mit Diamondraught, gab sie ihm und ließ ihn trinken, bis er genug davon im Leib hatte, um einzuschlafen.
    Anschließend bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen und zog sich in sich selbst zurück. Der Schlaf linderte die Starre von Covenants Gesicht, erhöhte seine Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Er hatte recht; sie selbst war es, der sie nicht verzeihen konnte. Aber noch immer hatte sie ihm nicht verraten, warum nicht. Die Finsternis hauste nach wie vor in ihr, und sie hatte nicht bekannt, zu was sie sich ihrer bedient hatte.

6
     

DER QUESTSIMOON
     
     
    Linden wollte nicht schlafen. Aus dem Hintergrund ihrer Gedanken stierten von Zeit zu Zeit Nachbilder ihres Vaters sie an, als hätte sie ihr Erlebnis im Rückblick zu genau betrachtet und sich die Sehnerven versengt. Ihr Trauma war nicht ausgetrieben. Vielmehr hatte sie lediglich den zu ihrem Schutz geschaffenen Unterdrückungsmechanismus geschwächt, der ihre Erinnerungen in Schach gehalten hatte. Nun waren die Schreie einer Achtjährigen ihr gegenwärtiger, als sie es im Laufe vieler Jahre gewesen waren. Sie versuchte den Schlaf fernzuhalten, weil sie die Gier ihrer Alpträume

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