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Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
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in der Firma an.« Víctor Alemany zog eine Visitenkarte heraus und notierte eine Telefonnummer. »Das ist die Durchwahl meiner Schwester Sílvia. Wir arbeiten zusammen.«
    Bestimmen zusammen, korrigierte Héctor im Geiste. Genau das hatte ihn schon immer fasziniert: die Vielschichtigkeit familiärer Beziehungen im Dickicht unternehmerischer Entscheidungen.
    Víctor Alemany war schon aufgestanden, als Héctor ihn sanft zurückwinkte.
    »Ganz kurz nur. Sagt Ihnen dieses Foto etwas?«
    Beim Anblick der aufgeknüpften Hunde wurde Víctor bleich. Ein empfindsamer Mensch, keine Frage.
    »Was ist das?«
    »Jemand hat es Sara aufs Handy geschickt, mit einer Nachricht: ›Vergiss das nicht‹.«
    Víctor saß völlig verstört da, sagte aber nichts.
    »Sind Sie sicher, dass Sie es vorher noch nie gesehen haben?«
    »Ja«, sagte er.
    Klar, dass Víctor Alemany ihm nichts weiter erzählen würde. Héctor wusste genau, wann die Leute auf stur schalteten, und ebenso, wann es galt nachzuhaken.

6
    Das Taxi, das er vor dem Kommissariat genommen hatte, bewegte sich gerade so schnell voran, wie es die Ampeln auf der Paral·lel zuließen – geschaltet zur Entschleunigung eines Verkehrs, der um diese Zeit ohnehin zäh floss –, und Víctor Alemany musste sich der Gesprächsversuche des Fahrers erwehren, eines schon älteren Herrn, der unbedingt von der Krise und dem »Gaunerpack« an der Regierung sprechen wollte. Víctor verspürte nicht die geringste Lust, mit einem Taxifahrer der alten Schule über Politik zu diskutieren, und so gab er nur ein paar einsilbige Antworten und schaute nichtvorhandene Nachrichten auf seinem Handy durch. Der Fahrer verstand den Wink und zahlte es ihm heim, indem er über Funk mit seinen Kollegen in Verbindung trat, worauf sich der Wagen mit abgehackten, knarzenden, etwas unheimlichen Stimmen füllte, in einem Code, der in den Ohren des Fahrgastes klang wie bei einer Panzerknackerbande.
    Als sein Handy vibrierte, sah er aufs Display, auch wenn er kaum Zweifel hatte, wer es war. Sílvia. Ungeduldig wie immer, unfähig, seinen Anruf abzuwarten. Nicht genug damit, dass sie ihn zu diesem Gang zum Kommissariat genötigt hatte … Am liebsten hätte er seine Schwester ignoriert, aber die Gewohnheit, wie sie ihm seit frühester Kindheit zu eigen war, drängte ihn zu antworten: »Ja? Bin im Taxi. Wenn ich zu Hause bin, rufe ich dich an. Ja, ja, alles gut, davon haben sie nichts gesagt. Mach dir keine Sorgen.«
    Seine eigenen Worte bereiteten ihm ein mulmiges Gefühl. »Alles gut.« Gut für ihn, klar. Gut für die anderen. Und vor allem, was Sílvia betraf, gut für das Unternehmen. Er hätte beinahe laut gelacht bei dem Gedanken, wie sehr seineSchwester sich verändert hatte. Als sie noch jung waren, hätte niemand vorausgesagt, dass die aufsässige Sílvia – ebenjene, die sich den Kopf auf einer Seite kahl rasierte und ihr Zimmer mit anarchistischen Parolen schmückte, die mit achtzehn von zu Hause ausriss, um sich einer Gruppe von Hausbesetzern anzuschließen, und die mit Sprüchen aus radikalen Pamphleten um sich warf –, dass diese Sílvia einmal die löchrigen Leggings gegen einen Hosenanzug tauschen würde, die Graffitis gegen gerahmte Gemälde und die linken Losungen gegen Ansichten, die man, wohlwollend betrachtet, nicht anders als pragmatisch bezeichnen konnte und, realistisch, als neoliberal.
    Als kompetente Managerin und strenge Mutter einer Halbwüchsigen und eines elfjährigen Sohns war Sílvia das Gegenteil dessen, was sie früher gewesen war. Víctor musste an ihren Vater denken. Wahrscheinlich hatte der alte Fuchs als Einziger geahnt, dass es so kommen würde, denn die Provokationen seiner Tochter nahm er nie allzu ernst. »Lassen wir sie an der langen Leine, dass sie sich austoben kann«, sagte er, als Sílvia zum zweiten Mal abgehauen war. »Wenn sie genug davon hat, kommt der Moment, kräftig anzuziehen.« Und wie er die Leine anzog: Jahre später, als die verlorene Tochter mit zwei Bälgern im Arm und niemandem an der Seite an die Tür klopfte, stellte der Alte seine Bedingung: »Entweder du fügst dich, oder du gehst.« Das Überraschende war, dass Sílvia nicht nur seine Autorität akzeptierte, sondern, der Herumtreiberei wohl überdrüssig, in ihrem Lebensstil einen Schwenk um hundertachtzig Grad machte. Vielleicht, vermutete Víctor, war es für seine Schwester auch leichter gewesen, sich einzugestehen, dass der Alte recht hatte, als zuzugeben, dass ihr nichts anderes übrig blieb.

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