Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Jetzt, mit fünfundvierzig und nach vielen Jahren der freiwilligen Enthaltsamkeit, hatte sie eine Beziehung mit einem Mitarbeiter angefangen. Und da bei der neuenSílvia für Leichtsinn kein Platz mehr war, stand auch bereits der Hochzeitstermin im Frühjahr fest. Die Zeit bis dahin sollte ausreichen, um Víctor an den Gedanken zu gewöhnen, dass César Calvo nicht nur verantwortlich war für die Logistik und das Warenlager von Alemany Kosmetik, sondern dass er auch zu einem weiteren Mitglied der Familie würde. Einem Mitglied mit einer, wenn auch nicht sehr lauten, Stimme. Allenfalls beratender Natur, dachte Víctor, und er hoffte, César war sich dessen bewusst …
Die Gefühlskälte jedoch, die seine Schwester zur Schau trug, verwunderte ihn immer wieder: Dass Sara beschlossen hatte, ihrem Leben auf eine so grausige Weise ein Ende zu setzen, war innerhalb von Minuten nicht länger eine Tragödie, sondern eine Unannehmlichkeit. Sílvias Gesicht – und darin las er, als wäre es sein eigenes – hatte diesen Umschwung deutlich gespiegelt. Nur wer sie nicht so gut kannte, hätte geschworen, die ernste Miene seiner Zwillingsschwester zeige Kummer um den Tod einer Person, eines Menschen, mit dem man in jenem unbestimmten Bereich verkehrt hat, in dem sich die Beziehungen am Arbeitsplatz entfalten: nicht gemocht wie eine Freundin, klar, aber etwas mehr als eine bloße Bekannte. Nach den Worten von Sílvia, die als Personalchefin eine Mitteilung an die ganze Firma geschickt hatte, war Sara Mahler »eine geschätzte Mitarbeiterin gewesen, die wir alle vermissen werden«. Die Todesursache erwähnte die Mail natürlich nicht, auch wenn die Gerüchteküche, sagte sich Víctor, bestimmt schon am Vormittag zu brodeln begonnen hatte. Und jetzt, um kurz nach halb neun an diesem Montagabend, wusste bei Alemany Kosmetik garantiert alle Welt, dass Sara Mahler, die Sekretärin des Chefs, sich umgebracht hatte. Und dass ihr Leichnam in einem Obduktionssaal lag, zerstückelt.
Der Gedanke ließ ihn erschauern, drehte ihm den Magen um. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause, in PaulasArme. Die Fahrt kam ihm endlos vor, und auf einmal fiel ihm auf, dass sie schon seit Minuten standen. Die Ampel ein Dutzend Autos weiter vorn sprang auf Grün, ohne dass sich ein einziges Fahrzeug bewegte. Der Taxifahrer stieß eine Reihe von Flüchen aus, die Víctor ignorierte. Es tat ihm gut, sich den Problemen anderer zu verschließen, und kaum hatte er diesen Gedanken gefasst, kam ihm die besorgte Miene von Sara Mahler in den Sinn, bei einem ihrer letzten Gespräche. Kurz nach dem Weihnachtsessen in der Firma.
Es ist spät geworden. Draußen wird es schon so früh dunkel, dass es ihm vorkommt, als wäre es erst sechs, auch wenn die Uhr auf dem Schreibtisch 20 Uhr 40 anzeigt. Als er den Kopf von den Vertreterberichten hebt, die er unbedingt noch durchsehen will, merkt er, dass Sara im Büro steht. Bestimmt hat sie angeklopft, er hat es nicht einmal gehört. Er lächelt ihr zu, müde.
»Du bist noch da?« Er weiß, dass seine Sekretärin so lange bleibt, bis er geht. Er hat sie nie darum gebeten, aber Sara scheint sich verpflichtet zu fühlen, als gehörte es zu ihrem Job.
»Ja …« Sara zögert, das kennt er gar nicht von ihr. Schließlich gibt sie sich einen Ruck, oder fast: »Ich wollte mit dir sprechen, aber es ist spät geworden. Vielleicht lieber morgen.«
Ja, denkt Víctor. Morgen. Das Gespräch hält ihn nur auf, und er möchte den Tag abschließen und nach Hause. Doch was er sagt, ist etwas anderes.
»Nein, komm rein und setz dich.« Er deutet auf die Unterlagen und lächelt wieder, wenn auch lustlos. »Das kann warten.«
Sie nimmt ihm gegenüber Platz, und es kommt ihm seltsam vor, denn Sara bleibt sonst immer stehen. Die Art, wiesich seine Sekretärin gibt, beunruhigt ihn, und für einen Moment befürchtet er, sie könnte ihm ein ernstes Problem darlegen. Sie fühlt sich unwohl, das ist offensichtlich, so steif, wie sie auf der Stuhlkante sitzt. Er wechselt die Brille, und als er Sara endlich deutlich sieht, bemerkt er, dass ihre Augen gerötet sind.
»Ist etwas mit dir? Gibt es ein Problem?«
Sara schaut ihn an, als ginge es um Leben und Tod. Sie sitzt stumm da, verstört, bis sie schließlich das Wort ergreift.
»Es ist wegen Gaspar.« Sie sagt es rasch, aber matt.
Víctors Gesicht verzieht sich. Er möchte nicht über Gaspar Ródenas sprechen. Am liebsten hätte er diesen Namen nie gehört. Er gibt seiner Stimme nun einen
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