Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
einmal: »Schrecklich.«
Héctor beobachtete ihn. In seinem Beruf neigte er dazu, die Leute rasch einzuschätzen, und jetzt genügten ihm die wenigen Minuten: Víctor Alemany schien einer von der anständigen Sorte zu sein. Er war nicht viel älter als Salgado, in den Vierzigern, und wirkte geradezu nordisch, das blonde Haar hier und da ergraut. Er trug einen feinen Anzug und eine bestimmt teure Brille, hinter der sich himmelblaue Augen verbargen. Trotz seines Aufzugs hatte er nichts von einem aggressiven Manager. Gleich als er durch die Tür trat, hatte er Héctor eher an Michael York erinnert, den Studenten, der in Cabaret die Hauptrolle spielt. Natürlich ein paar Jahre älter.
»Wann ist es passiert? Wir haben es erst heute Morgen erfahren, als Sara nicht zur Arbeit erschien …«
»War das auffällig? Ich meine, dass sie nicht ins Büro kam.«
»Ich glaube, es war noch nie vorgekommen. Nein, ich bin mir sicher. Sara hat nie gefehlt. Sie ist auch nie zu spät gekommen. Im Gegenteil, sie war immer eine der Ersten.«
»Ihre Firma ist tätig in …?«
»Wir stellen Kosmetikartikel her.« Víctor Alemany lächelte. »Alle Arten von Cremes für die Gesichts- und Körperpflege, Make-up … Mein Großvater hat das Unternehmen gegründet, in den vierziger Jahren, und es gibt uns noch immer.«
»Schwierige Zeiten?«
Alemany zuckte nur mit den Schultern.
»Wir können uns nicht beklagen. Auch wenn das Schlimmste erst noch kommt, fürchte ich.«
»Worin genau bestand Saras Tätigkeit?«, fragte Héctor.
»Sie war seit fünf Jahren meine Sekretärin.«
»Und Sie waren zufrieden mit ihr?«
»Außerordentlich«, antwortete Alemany. »Es gab niemals Klagen, nie hat sie einen Fehler gemacht.«
Kam nicht zu spät, vertat sich nicht, saß zuverlässig am Schreibtisch … Sara Mahler, dachte Salgado, machte alles perfekt. Sogar bei ihrem Selbstmord.
»Kannten Sie sie gut?«
»Wie ich bereits sagte, sie war meine Sekretärin. Wenn Sie mit der Frage darauf hinauswollen, ob ich etwas über ihr Privatleben weiß, muss ich sagen, nein, zumindest hat sie sich nicht weiter dazu geäußert. Sie hat auf ausgezeichnete Weise ihre Aufgaben erfüllt. Von sich selbst hat sie mir nicht allzu viel erzählt.«
»Und den Kollegen?« Salgado fragte ein wenig ins Blaue hinein, da er nicht wusste, wie groß die Firma war, und er hielt es im Moment für besser, nicht nachzuhaken. Er würde es, wenn notwendig, ohnehin erfahren.
»Sara war eine zurückhaltende Person. Ich bin mir nicht sicher, ob sie Freunde im Haus hatte.«
Und draußen offenbar auch nicht, sagte sich Héctor. Aber Víctor Alemany sprach weiter:
»Ich glaube, es war auch eine Mentalitätsfrage. Sara war Österreicherin, hatte eine sehr rigide Ausbildung genossen. Es gibt immer noch gewisse kulturelle Unterschiede.«
»Wohl wahr.«
Ein paar Sekunden war es still, und während dieses Schweigens nahm das Profil von Sara Mahler für Héctor immer deutlichere Konturen an: ordentlich, pünktlich, eher ungesellig, mit hohen Ansprüchen an sich selbst und andere; ohne besondere familiäre Bindungen. Víctor Alemany unterbrach Salgados Überlegungen nicht. Auch er schien in Gedanken versunken.
»Wissen Sie, ob sie einen Freund hatte?«, fragte der Inspektor schließlich.
Alemany tauchte langsam wieder auf.
»Ich weiß es nicht, auch wenn ich es, ehrlich gesagt, nicht glaube. Sonst hätte sie sicher mal eine Bemerkung gemacht.«
Héctor nickte.
»Hören Sie, Inspektor Salgado, wenn wir irgendwie behilflich sein können … Wobei auch immer. Ich weiß, sie hatte kaum Familie, wenn es also an Geld fehlt für die Überführung der sterblichen Überreste oder …« Das Wort »Überreste« kam ihm angesichts der Umstände des Todes offenbar deplatziert vor. »Sie verstehen schon. Ich kann immer noch nicht glauben, dass … Es kann ein Unfall gewesen sein, nicht? Vielleicht ist ihr schwindlig geworden, sie ist gestürzt und …«
»Es ist immer schwer, eine solche Entscheidung zu akzeptieren. Aber Sie haben recht: Es besteht die Möglichkeit eines versehentlichen Sturzes.« Er machte eine Pause, und dann: »Oder dass jemand sie gestoßen hat.«
»Wer sollte so etwas tun?«
Das war die große Frage, dachte Héctor. Nach allem, was er von Sara Mahler wusste, war sie eine Frau, die Antipathie weckte, aber nicht Hass.
»Also, wenn Sie noch etwas benötigen, wissen Sie, wo Sie uns finden. Allerdings muss ich morgen verreisen und bin erst am Freitag zurück. Rufen Sie einfach
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