Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
innerhalb von Monaten gestorben sind. Sein Gesicht lässt weder Schmerz noch Verwunderung erkennen. Es deutet vielmehr auf große Konzentriertheit, als versuchte er in Gedanken, eine für ihn viel zu komplizierte Gleichung zu lösen.
Manel Caballero sieht die E-Mail mit dem Foto im Anhang und die andere, die Brais in der Frühe geschickt hat, erst, als er den Computer an seinem Arbeitsplatz hochgefahren hat. Seine Angewohnheit, als Erster da zu sein, verschafft ihm ein paar Minuten, um die Lage einzuschätzen und die Möglichkeiten abzuwägen. Er braucht nicht lange für seinen Entschluss: Mit einem raschen Mausklick entfernt er beide Nachrichten und löscht sie dann auch im Papierkorb. Seine Mailbox ist wieder so sauber wie seine Wohnung. Frei vom kleinsten Schmutz.
Amanda Bonet dagegen sieht ihre Mails zu Hause durch, die privaten wie auch die beruflichen. Es ist das Erste, was sie jeden Morgen tut, und auch das Letzte, bevor sie schlafen geht. Immer in der Hoffnung, eine besondere Nachricht zu erhalten, eine dieser E-Mails, die sie so erregen und ihr die Nacht oder den Tagesbeginn versüßen. Seit Monaten geht es ihr so, im Bann dieses Kribbelns, abhängig von diesen Nachrichten und den flirrenden wöchentlichen Begegnungen. Sie war noch nie so glücklich, auch wenn Glück ein zu schlichtes Wort ist, um ihre Gefühle zu beschreiben.
An diesem Mittwoch leuchten Amandas Augen auf, als sie die vier neuen Nachrichten sieht. Nicht, weil es so viele sind, sondern wegen einer bestimmten. Sie schaut auf die Absender der anderen drei: Eine ist von einer Freundin und eine weitere von Brais Arjona, das hat Zeit bis später. Bei der dritten, von einem unbekannten Absender, fehlt der Betreff. Sie löscht sie ungeöffnet, aus Angst vor einem Virus, undkonzentriert sich auf die einzig interessante. Nach einer Nacht mit schrecklichen Albträumen, an die sie sich nur undeutlich erinnert, muss sie mit ihm sprechen, und das geht nur per Mail. Sie öffnet die Nachricht und lächelt, als sie die erste Zeile liest, ein liebevoller, einnehmender, schützender Gruß. Sie stellt sich vor, wie er am Morgen im Bett lag und an sie schrieb, ihr Bild vor Augen.
Sie liest weiter, und die Sätze verfehlen ihre Wirkung nicht. Es wundert sie immer wieder, wie es ihm allein mit Worten gelingt, dass ihr Körper auf diese Weise reagiert. Manchmal, nicht oft, denkt sie, dass es sie fast so befriedigt wie die Begegnungen am Sonntagnachmittag. Nur wäre die Wirklichkeit nichts ohne den anderen Teil des Spiels, das weiß sie genau, so wie die Mails oder SMS ohne jedes Gefühl wären, gäbe es nicht die wirklichen Momente, mit Haut, Berührung, Belohnung oder Strafe.
Sie liest bis zum Ende, kostet jedes Wort aus, jedes Lob, jeden Vorwurf und vor allem jeden Befehl. Er gibt ihr genaue Anweisungen, wie sie sich zu kleiden und zu frisieren hat. Welches Parfüm sie auflegen, welche Dessous sie tragen soll. Manchmal – ein ungeschriebenes Gebot – ist sie ungehorsam, wenn auch nie bei etwas allzu Offensichtlichem. Sie folgt seinen Befehlen aufs Wort, oder zumindest dem Anschein nach, und es erregt sie, wenn sie den Rock anzieht, den er für den Tag ausgewählt hat, wenn sie den Duft auftupft, den er riechen will, oder wenn die Unterwäsche, was er bei der Arbeit schwerlich sehen kann, bewusst nicht von der verlangten Farbe ist. Dass sie im selben Unternehmen arbeiten, bereichert ihre Beziehung um den Reiz des Heimlichen, die Gefahren einer verbotenen Romanze, und er betont dies noch durch eine wohldosierte Gewagtheit hier und da. Aber niemand hat von ihren Spielen etwas mitbekommen … Niemand weiß etwas von ihnen, erst recht nicht jetzt, wo Sara tot ist.
Nein, sie will nicht an Sara denken. Und plötzlich fällt ihr der Albtraum ein: das Bild von Sara, wie sie durch den langen Metrotunnel lief, verfolgt von einer Meute Hunde. Und wie sie, Amanda, die Szene betrachtete, als sähe sie einen Horrorfilm; wie sie mit Sara litt und sie zu warnen versuchte, das Schlimmste liege nicht hinter ihr, sondern am Ende des verfluchten Tunnels. Aber vergeblich: Die Frau, die flüchtete, ohne sich umzuschauen, hörte sie nicht, so laut sie auch schrie. »Bleib stehen, Sara. Niemand tut dir etwas. Das sind keine Hunde, das sind wir.« Und da sah sie sich selbst, mit den anderen, wie sie durch den Tunnel rannten, um sie einzuholen. Sie war sich nicht sicher, ob sie Sara vor ihrem schrecklichen Schicksal bewahren oder nur sehen wollten, wie ein Zug sie
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