Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
dann, dass du niemals der Mittelpunkt in ihrem Leben sein wirst. Ruth war sehr viel freier, als sie selber glaubte. Und wer an ihrer Seite war, musste den Platz akzeptieren und durfte nicht mehr erwarten. Klar, das sehe ich jetzt. Damals hat es mich auf die Palme gebracht. Ich habe in der ständigen Angst gelebt, sie zu verlieren, habe alles getan, um sie an mich zu binden.« Sie trank einen weiteren Schluck. »Ich nehme an, irgendwann hätte sie mich verlassen. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich sie … auf diese Weise verliere.«
Carol schien kein Mensch zu sein, der in der Öffentlichkeit weint, doch der Schmerz sprach aus jedem ihrer Worte, jeder Geste.
»Was glaubst du, was passiert ist?«
»Ich weiß es nicht. Eins ist klar: Sie wäre niemals einfach so abgehauen. Sie war viel zu ernst, zu verantwortungsvoll. Außerdem ist da noch Guillermo. Am Anfang dachte ich, ihr Ex steckt dahinter. Ich weiß, ja, er ist ein guter Kerl.« Sie seufzte. »Nicht dass er ihr etwas angetan hätte, auch wenn ich zugeben muss, dass ich auch daran gedacht habe. Aber als ich ihn sah, wusste ich, dass dieser Mann, nein, sosehr ich ihn auch hasste, dass dieser Mann dazu niemals in der Lage gewesen wäre. Wenn dir etwas wehtut, wirst du empfänglicher für den Schmerz der anderen.«
Sie trank einen letzten Schluck Wein. Im Glas blieb nur eine granatrote Träne, wie eine Blutspur.
»Aber irgendwie musste es mit ihm in Verbindung stehen. Mit seiner Arbeit, mit dem Kerl, den er verprügelt hat …« Sie schaute Leire in die Augen, völlig verunsichert. »Etwas anderes fällt mir nicht ein. Wer sonst sollte Ruth etwas antun können?«
»Entschuldige die Frage, aber bist du sicher, dass es in Ruths Leben niemanden sonst gab?«
»Kann man je sicher sein?« Beide lächelten. »In meinem jedenfalls nicht, das kann ich beschwören. Nicht einmal jetzt, sechs Monate danach. An Ruth kommt einfach niemand ran. Nicht im Entferntesten.«
Carol versank in ihren Erinnerungen, und Leire konnte fast sehen, wie die Wehmut alles in diesem Lokal ergriff, die Wandtafeln mit den Angeboten des Tages und die leeren Tische, selbst die Bedienung hinterm Tresen, die ebenfalls einer verlorenen Liebe nachzuhängen schien.
»Ich könnte schwören, dass Ruth mir treu war. Sie hätte mir die Wahrheit gesagt. Die Monate, die sie ihren Mann betrogen hat, waren für sie eine Qual. Ich weiß, das klingt abgegriffen, aber es stimmt.«
»Gab es vor dir eine andere? Ich weiß, das geht mich nichts an, aber es kommt mir seltsam vor, dass eine Frau mit achtunddreißig Jahren die gleichgeschlechtliche Liebe entdeckt.«
Carol zuckte die Schultern.
»Ich will mir nichts darauf einbilden, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die erste Frau war.«
»Hast du sie nie gefragt?«
»Da sieht man, dass du sie nicht kanntest. Ruth hat erzählt, was sie erzählen wollte, und mit einem Blick konnte sie dich zum Schweigen bringen. Ich musste manchmal lachen und habe ihr gesagt, sie käme mir vor wie aus einer englischen Serie. Du weißt schon, oben die Herrschaften und die Dienerschaft unten.«
Leire nickte. Auf den Fotos hatte sie auch dieses Aristokratische an Ruth bemerkt. Selbst in Jeans und T-Shirt sah sie elegant aus. Mit eigenem Stil. Im Hintergrund lief ruhige Musik, ein geflüsterter, kitschiger Bossa nova.
»Ich weiß nicht, womit ich dir noch helfen kann. Und ich weiß auch nicht, ob ich weiter davon sprechen will«, sagte Carol ganz offen.
»Das verstehe ich. Nur eins noch. Hat Ruth an etwas Neuem gearbeitet?«
»Sie hatte immer etwas im Kopf. Es gibt mehrere Mappen mit Skizzen und einzelnen Zeichnungen. Die sind noch bei ihr zu Hause.«
»Dürfte ich wohl mal draufschauen?«
Sie hegte keine großen Hoffnungen. Eigentlich wollte sie vor allem die Wohnung sehen, den Ort, wo sich ihre Spur verloren hatte.
»Schlüssel habe ich. Von mir aus kannst du sie sehen, auch wenn ich nicht weiß, was es dir bringt.« Sie seufzte. »Ich muss definitiv mit Héctor sprechen. Nein, nicht über das, was du vorhast«, erklärte sie. »Ich meine, was mit der Miete passiert, mit Ruths Sachen, dem Geld …«
Geld. Zum zweiten Mal schon erwähnte Carol das Thema, und die misstrauische Polizistin in Leire meldete sich sofort. Wenn die Erfahrung, die sie bei der Polizei hatte sammeln können, sie etwas lehrte, dann dass die Habgier eine der ältesten Regungen der Menschheit war. Und eine der tödlichsten … Aber auch wenn sie alle persönlichen Eindrücke beiseiteließ –
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