Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Minuten dauern ewig, der Tag will nicht kommen. Kurz vor drei ist Brais das Grübeln leid, er steht auf und geht barfuß ins Esszimmer, zu seinem Laptop. Er weiß, dass er es nicht anschauen sollte, aber es ist etwas Krankhaftes an diesem Bild, es macht ihn süchtig.
Das Foto kam zusammen mit einer E-Mail von nur drei Wörtern. »Vergiss das nicht.« Als könnte jemand das vergessen. Brais schließt für ein paar Sekunden die Augen, so lange dauert es, bis das Foto erscheint. Obwohl er es genau kennt, spannt sich sein ganzer Körper. Und leicht vorgebeugt, beide Hände auf dem Tisch, betrachtet er den Bildschirm, verspürt den Wunsch, ihn mit einem Faustschlag zu zertrümmern. Er könnte es tun, aber es würde nichts nutzen. Die drei erhängten Hunde blieben in seinem Kopf: die Mäuler aufgerissen, die Hälse langgezogen, die Beine steif. Wie erbarmungslos hingerichtete Gefangene.
Reglos bleibt er davor stehen, angespannt. Sein Körper will, dass er etwas tut, dass er physisch reagiert auf diesen fixen und unbeirrten Reiz. Also schließt er das Fenster mit dem Bild und ist wieder im Mailprogramm. Er schreibt eine rasche Nachricht und schickt sie an die Privatadressen der fünf betroffenen Personen: Sílvia Alemany, César Calvo, Amanda Bonet, Manel Caballero und den Ältesten von allen, Octavi Pujades. An die, die noch leben, denkt er nüchtern. Die sich noch retten können.
Dann legt er sich wieder hin und umarmt seinen Mann, möchte sich anstecken lassen von der Ruhe des Geistes, diedieser tiefe, erholsame Schlaf David schenkt, der Schlaf der Unschuldigen. Das ist das Einzige, was wirklich zählt, denkt Brais: an Davids Seite schlafen zu können, solange er noch am Leben ist.
Seit Monaten schon fallen für Octavi Pujades der Tag und die Nacht in einer Art ewigem Halbschlaf zusammen. Irgendwo hat er mal gelesen, dass man es bei Kriegsgefangenen als Druckmittel eingesetzt hat: Wenn die zeitlichen Koordinaten verschwinden, verliert der Geist seinen Halt und stürzt aus allen Zusammenhängen. Er möchte glauben, dass es bei ihm nicht der Fall ist, dass sein Gehirn so präzise funktioniert wie eh und je, dass es rein logisch analysiert und entscheidet. Für Octavi, seit mehr als zwanzig Jahren kaufmännischer Leiter von Alemany Kosmetik, sind zwei plus zwei immer vier gewesen, in den Bilanzen wie im Leben. Deshalb stört es ihn, dass die Leute in anderen Berufen so ungenau sind, so mathematisch unkorrekt.
Als man bei seiner Frau den Krebs feststellte, der sie aufs Krankenlager warf, sagte der Arzt, Eugènia werde das neue Jahr nicht mehr erleben. Genauer: Wenn sie es bis Weihnachten schaffte, wäre das ein Riesenerfolg. Und Octavi Pujades handelte nach dieser Prognose. Er sprach mit Sílvia und mit Víctor, benannte einen Vertreter – nicht den, den er am liebsten gehabt hätte, sondern den angesichts der Umstände einzig möglichen – und ließ sich ein paar Monate beurlauben, um seine Frau zu pflegen. Eugènia hatte ihn nur um eins gebeten: zu Hause zu sterben. In ebenjener Umgebung, in der sie nun seit achtzehn Jahren leben, seit sie die Wohnung in der Stadt gegen dieses freistehende Haus in Torrelles de Llobregat tauschten, in einer Siedlung, wo es noch Vögel gab. Er hatte es ihr versprochen und sich der Aufgabe mit derselben Disziplin gestellt, die er in seinemArbeitsumfeld walten ließ. Es wären höchstens fünf Monate, von August bis Ende des Jahres, eine lange, aber nicht zu lange Zeit. Er war sich einigermaßen sicher, dass Gaspar Ródenas, der gewählte Ersatz, seine Funktion ausfüllen und ihn zugleich auf dem Laufenden halten würde. Niemals, nicht in den schlimmsten Momenten des Zweifels wäre ihm der Gedanke gekommen, dass Gaspar vor Eugènia sterben könnte und er am Ende auf den würde zurückgreifen müssen, der eigentlich sein Wunschkandidat war. Das Leben kennt seltsame Formen, Gerechtigkeit herzustellen, dachte er. Früher hieß es, die Wege des Herrn seien unergründlich, aber das kam mehr oder weniger auf dasselbe hinaus.
In dieser Nacht tritt Octavi in das Zimmer, das einmal ihr Schlafzimmer gewesen und jetzt eine Gruft ist, nur dass der Leichnam sich noch ans Leben klammert. Und die Kraft, mit der Eugènia sich an dieser Welt festhält, an diesen wenigen schmerzlosen Stunden bei Bewusstsein, aus denen ihr Leben besteht, scheint ihm bewundernswert und überraschend zugleich. Nie hätte er geglaubt, dass in diesem kleinen, zarten Körper eine solche Zähigkeit stecken könnte, eine solche
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