Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Lust, dem Tod die Stirn zu bieten, der sich in irgendeine Ecke des Zimmers geduckt haben muss, wie ein Aasvogel, bereit, seine Krallen in die Beute zu schlagen.
Eugènia schläft. Die Medikamente stellen sie den größten Teil des Tages und der Nacht ruhig. Er tut, was er kann, das weiß er. Aber auch wenn er sich dazu zwingen wollte, hat er es nicht geschafft, das Bett weiter mit ihr zu teilen, und das schmerzt ihn. Gleich zu Beginn ist er in das Zimmer des Sohns gezogen, das leer stand, seit ihr Ältester geheiratet hatte. Wenn Eugènia stirbt, wird er das Haus verkaufen. Es wäre absurd, einen so großen Kasten zu unterhalten, gedacht für eine mindestens fünfköpfige Familie. Er erzählt esseiner Frau, auf der Bettkante sitzend, auch wenn die ihn nicht hören kann. In all den Jahren ihrer Ehe hat er es nie getan: ihr seine Pläne erklären, berücksichtigen, was sie dazu sagen würde, wenn sie es könnte.
Genauso erzählt er von ihrem Sohn, der sie am Nachmittag besucht hat, während sie döste, von der älteren Tochter, die sich weigert herzukommen, denn jedes Mal ist sie am Ende in Tränen aufgelöst, und von der anderen, der jüngsten, der wildesten, die unangemeldet auftaucht und verschwindet, ohne auch nur Tschüss zu sagen. Wenn es um sie geht, vertraut Octavi nach wie vor auf das Urteil seiner Frau. Keine Sorge, hat sie immer gesagt, es gibt Menschen, die finden ihren Weg ganz selbstverständlich, und andere, die müssen erst suchen, zurückgehen, um dann plötzlich voranzukommen. Und wenn es so weit ist, wird Mireia einen Sprung tun und uns alle hinter sich lassen.
Das Thema Kinder ist erschöpft, doch Octavi spricht weiter. Bald lässt er den Blick über die Decke schweifen, als fürchtete er, beim Anhören seiner Beichte könnte dieser mörderische Greifvogel das Opfer wechseln und ihn mitnehmen. So wie er Gaspar mitgenommen hat und dann Sara, und als Todesnachricht nur dieses gespenstische Foto. Er muss an Gaspars Worte denken, als der zu ihm kam, Worte, die sich in seinen Kopf eingebrannt haben. »Wir haben nichts anderes verdient. So werden wir alle enden, Octavi. Wie die Hunde.«
Um Viertel vor sechs klingelt der Wecker, und für Manel Caballero beginnt der Tag. Aufzustehen ist ihm schon immer schwergefallen, als Kind hätte er alles dafür gegeben, diesen Moment der Rückkehr in die wirkliche Welt hinauszuzögern. Die Schule hat er genauso gehasst wie jetzt die Firma, in der er arbeitet, nicht wegen der Stelle an sich, sondernweil sie ihn zwingt, mit Menschen zu verkehren. Wenn er die Wahl hätte, würde er seine Arbeit zu Hause erledigen, um sich herum allenfalls ein paar ausgesuchte Personen. Intelligente, saubere, schweigsame. Die sich nicht in das Leben anderer mischen. Im Grunde also niemand.
Wie jeden Tag nimmt er ein frisches Handtuch und steckt es nach dem Abtrocknen gleich in den Korb mit der Schmutzwäsche. Dann zieht er die Sachen an, die er am Abend herausgelegt hat, und macht sich in der Küche das Frühstück. Nur Kaffee, um diese Zeit verträgt sein Magen nichts Festes. Bevor er die Küche verlässt, spült er die Tasse und den Löffel, trocknet sie sorgfältig ab und stellt sie an ihren Platz. Zurück im Badezimmer, putzt er sich die Zähne, exakt drei Minuten. Er schaut sich um, und auch wenn beim Duschen kein einziger Tropfen auf den Boden gespritzt ist, wischt er ihn gewissenhaft. Er hat es gerne, dass die Wohnung makellos ist, wenn er aus dem Haus geht, das Bett gemacht, die Küche aufgeräumt. Es gibt ihm Kraft, den schlimmsten Teil des Tages zu ertragen: die Fahrt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zu Alemany Kosmetik. Lärmende Menschen, mit denen er den Raum fast vierzig Minuten lang teilen muss. Allein deshalb hätte er am liebsten den Job gewechselt. Er hat es sich ernsthaft überlegt, aber die Situation erlaubt es nicht, sich solche Launen zu gönnen. Außerdem haben sich seine beruflichen Aussichten seit dem Sommer beträchtlich verbessert, und so hat er vor ein paar Monaten beschlossen, dass es sich lohnt, Unannehmlichkeiten wie diese auszuhalten. So dass er jeden Tag die Fahrt über sich ergehen lässt wie seinen persönlichen Kreuzweg.
An diesem Tag ist der Bus aus einem unerklärlichen Grund halb leer, und er muss nicht so tun, als läse er in einem Buch. Hätte jemand ihn beobachtet, wäre er nie auf die Idee gekommen, dass dieser adrette und wohlgekämmte junge Mann, etwas stillos gekleidet, aber mit Bügelfalte, gerade an zwei Kollegen denkt, die
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