Der einzige Ausweg: Ein Barcelona-Krimi (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
war der Name der Journalistin, die ihn geschrieben hatte: Lola Martínez Rueda. Lola. Himmel, Lola … Nach all der Zeit.
Er musste lächeln, als er sich an sie erinnerte. An ihre ungenierte Art, das ansteckende Lachen, diese Hände, die niemals Ruhe gaben. Lola … Seit Jahren hatte er nicht mehr an sie gedacht. Er hatte gelernt, sie in ein Eckchen seines Hinterkopfs zu verbannen, sie unter der getroffenen Entscheidung zu begraben. Jetzt jedoch, in dieser falschen, viel zu lauen Nacht, sah er ihr Gesicht, als stünde sie vor ihm, und die Erinnerung vertrieb seine schlechte Laune.
11
Städte schlafen, wie die Hunde, niemals ganz. Allenfalls schlummern sie, ruhen, schöpfen Kraft, um das Gewimmel der Fahrzeuge und Fußgänger, das sie am nächsten Morgen erwartet, zu ertragen. Ihre Straßen atmen ein wenig freier, nur eine Handvoll Menschen nehmen sie in Anspruch. Nachtaktive Tiere von unterschiedlichstem Wesen, die über Bürgersteige, Plätze und durch Gassen ziehen, die fast leer sind, immer kälter, stiller, träger. Noch das leiseste Geräusch wird jetzt zu donnerndem Getöse. Die zugeschlagene Autotür klingt wie eine Detonation, feste Schritte hinterlassen Echos, Stimmen sind wie Schreie.
Brais Arjona hatte jahrelang dieser Schattenwelt angehört. Gewöhnlich zog er allein los und kehrte allein zurück, aber das war ihm egal. Hauptsache, er konnte diese Stunden mit anonymen Gesichtern und unbekannten Körpern ausfüllen. Leider war selbst in einer Stadt wie Barcelona die nächtliche Fauna irgendwann immer dieselbe, und sobald er Exemplare entdeckte, die er vom Sehen kannte, fühlte er sich unwohl, angewidert von diesem Ambiente mit den dunklen Ecken und den einsamen Typen. Waren die schon älter, wandte er den Blick ab, nicht weil er sie missachtete, sondern weil er nicht sehen wollte, wie er selbst einmal aussähe, wenn er nicht mehr so jung wäre, nicht so attraktiv. Nicht so begehrenswert. Immer wieder nahm er sich fest vor, diese Fluchten zu reduzieren, einfach mit Freunden auszugehen, zu Hause zu bleiben und einen Film zu sehen. Doch jedes Mal weckte der Geruch der Nacht in ihm einen kaum zu unterdrückenden Drang. Und nach zwölf, wenn verantwortungsbewusste Angestellte normalerweise ins Bett gingen, stürzte er auf die Straße. Wie ein Wolf. Auf der Suche nach seinem Rudel. Auf der Suche nach Beute. Auf der Suche nach etwas, was seinen Heißhunger stillte.
Genau wie in Madrid gab es in seinem ersten Jahr in Barcelona denkwürdige Nächte und solche, die man vergessen konnte. Aber selbst die fadesten hatten noch etwas Stimulierendes, sie gehörten zum Spiel, das wusste er. Doch mit der Zeit ähnelten sie sich immer mehr, und die guten wie die schlechten verschmolzen zu einer einzigen Kategorie, mittelmäßig, grau. Dieselben Männer, dieselben Tresen. Dieselben Blicke, die, ohne dass es eines Wortes bedurfte, den komplexen und zugleich einfachen Mechanismus in Gang setzten, an dessen Ende der Sex stand. Doch dann, als der Überdruss schon an ihm fraß, oder vielleicht ebendrum, erschien David.
David, sein Mann, der jetzt im Schlaf das Kopfkissen umklammerte. David, der spätestens um zwölf ins Bett ging und um sieben aufwachte, strotzend vor Energie. David, der den Wolf erjagt und ihn zu einem lieben kleinen Haustier gemacht hatte. Brais hatte noch nie Probleme gehabt mit seiner Homosexualität, auch nicht als Jugendlicher in Galicien, diesem verregneten Landstrich, den er damals hasste und nach dem er sich mittlerweile schon sehnte. Dass er keine Familie hatte, war wahrscheinlich ein Glück gewesen, denn es gab niemanden, dem er von seiner Orientierung erzählen konnte, oder zumindest niemanden, den es wirklich interessierte. Aber selbst wenn er ein Problem damit gehabt hätte oder er jemand gewesen wäre, der seine wahren Wünsche verbirgt, hätte spätestens Davids Gegenwart jede Angst oder Scham zerstreut. Denn einen Menschen mit dieser Kraft zu lieben konnte nichts Schlechtes sein. Deshalb hatten sie auch geheiratet, ein symbolischer Akt: um der Welt zu verkünden, dass sie zusammen waren, dass sie zusammen blieben und dass sie, mit ein wenig Glück, zusammen alt würden. Ein Lebensabend, der noch in weiter Ferne zu liegen schien. Brais war siebenunddreißig, sein Mann gerade einunddreißig geworden. Das Leben erstreckte sich vor ihnen wie ein langer, glücklicher Weg. Doch in dieser Nacht schien der Weg abzubrechen, zu enden an einem jähen, gefährlichen Abgrund. Zumindest für ihn.
Die
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