Der einzige Mann auf dem Kontinent - Roman

es keine Echtzeitbilder. Nur dieses eingefrorene hier auf Googlemaps. Ich gebe zu, ich war enttäuscht, als ich ihn das erste Mal sah. Ich dachte, das Hauptquartier einer international agierenden Firma wäre etwas aus Glas und Stahl. So groß sind wir also nicht. Die stille Straße ist von Platanen gesäumt, Grauhörnchen spielen. Weniger in den Platanen, als auf den anderen Bäumen, die auf den Grünflächen zwischen den Bungalows stehen. Ich tat so, als fände ich Grauhörnchen putzig, in Wahrheit
gruseln sie mich, hoffentlich kommen sie mir nie so nahe, dass ich kreischen muss, wie ein altes Weib. Die Texaner essen sie, sagte KenLin, deswegen wird dort niemals die Todesstrafe abgeschafft werden. Wir alle lachten. Ist irgendetwas davon sichtbar? Spielende Grauhörnchen? Nein. Noch nicht einmal ein für immer - das heißt, so lange, bis jemand das Bild aktualisiert - dort parkender SUV. Und während das Bild so stillstand und während es um ihn herum auch ganz still war, stellte sich Darius Kopp eine Welt vor, auf der nichts geschah. Natürlich nicht Nichtsnichts, nur nichts, worüber es eine Nachricht hätte geben können. Das ein bewegtes Bild wert gewesen wäre. Er stellte sich diese Welt vor und erschrak. Sie kam ihm falsch vor. Eine stille, falsche Welt. Darius Kopp gruselte sich in diesem Moment so sehr wie zuletzt als Kind vor grausamen Märchen. (Bei der Eiskönigin habe ich mich unter dem Gelächter meiner Erwachsenen unter dem Tisch versteckt.) Er schüttelte sich unwillkürlich, erkannte darin eine Chance, er schüttelte sich noch einmal, schüttelte es aus seinem Kopf.
    Denk nach. Vielleicht ist es wirklich etwas Technisches. Wenn es so ist, wird es ja wohl kaum die gesamte Welt umspannen. Wie spät ist es jetzt zum Beispiel in Hongkong? Um halb 8. Das ist noch einen Hauch zu früh. Es ist nichts bekannt davon, dass David Chan ein Frühaufsteher wäre. Es ist nichts bekannt von ihm. Wir kennen ihn nicht. Nie gesehen, nie gesprochen. Überhaupt, was willst du ihm sagen? Wollte nur mal sehen, ob du da bist? KenLin wäre möglicher. Aber, noch einmal, nicht um 7 Uhr 30. Auch wenn die Temperaturen bereits 26 Grad Celsius betragen und die Luftfeuchtigkeit 93%. Schönes Webcam-Bild vom Hafen. Da, schau, ein high flyer. Wie heißt high flyer auf Deutsch? Heißluftballon. Gelb-rot, bestimmt eine Werbung. Hier bei uns gibt es auch einen, der ist weiß-blau, aber man sieht ihn nur, wenn man mit dem
Auto kommt. Aus dem Fenster nicht. Die Kraft, aufzustehen und hinzugehen, kannst du dir sparen. Sinnloses Gestrampel. Ich habe keine Lust mehr. Wie spät ist es? Die Gewohnheit heißt einen, das Handy aus der Brusttasche zu fummeln, um nachzusehen. Aber das Handy ist aus. Die Batterie. Sie hier aufzuladen hat keinen Sinn mehr. Nach Hause. Schließlich und endlich nach Hause. Ein Taxi nehmen. So viel habe ich mir verdient. Vielleicht schläft sie schon. Und wenn nicht, sich zu ihr auf die Terrasse setzen. Oder vor den Fernseher. Sie erzählt ihrs, ich erzähle meins. Es wird vielleicht anstrengend werden. Es wird vielleicht Morgen werden. Aber wann ist ein Mann ein …?
    Er schloss - mit kleinen, nachdrücklichen Klicks - alle Browser-Fenster. Zuletzt die amerikanische Nachrichtenseite. Auf dem Highway Nr. 101 baut sich allmählich der Nachmittagsstau auf. Als er das Handy nahm, um es sich wieder in die Brusttasche zu stecken, kam er endlich drauf. Dachte: Highway 101, dachte: Handy, ließ sich zurück in den Stuhl fallen, der Stuhl federte.
     
    Yes?, sagte Bill, sich mit dem Auto dem Stau annähernd, über das Headset mit seinem Handy telefonierend.
    Oh, sagte Darius Kopp. Oh, Bill …
    Yes, sagte Bill. To whom am I talking?
    Bill! schrie Kopp. Ich bin es! Därjäss! From Börlän! How is it going? How’s the weather in the bay area?
    Das Wetter? Bill hingegen, als wäre er im Halbschlaf. In der Leitung rauschte es. Das Wetter ist gut. Wie ist es in … (als ob eine kurze Pause, Nachdenken) Berlin?
    Gut, gut, hervorragend, actually haben wir eine heat wave, seit 8 Wochen by now!
    Warum, um Gottes willen, bist du jetzt euphorisch? Denn
er war euphorisch. In dem Moment, als er Bills Stimme hörte, schaltete Darius Kopp von 0 auf 1, aus einem Zustand der verwirrten Ohnmacht und der müden Wut in einen der Lebendigkeit, Fokussiertheit und Optimismus, er zwitscherte förmlich (so wie ein Mann eben zwitschern kann): Das Wetter, so und so, actually hervorragend, wirklich nicht schlecht, thanks(!) the global warming,