Der Einzige und sein Eigentum (German Edition)
»Begeisterung für den wahrhaft menschlichen Beruf«.
Eine lange Zeit verfloß, in welcher man sich mit dem Wahne begnügte, die Wahrheit zu haben, ohne daß man daran ernstlich dachte, ob man selber vielleicht wahr sein müsse, um die Wahrheit zu besitzen. Diese Zeit war das Mittelalter . Mit dem gemeinen, d. h. dem dinglichen Bewußtsein, demjenigen Bewußtsein, welches nur für Dinge oder Sinnliches und Sinnfälliges Empfänglichkeit hat, gedachte man das Undingliche, Unsinnliche zu fassen. Wie man freilich auch sein Auge anstrengt, um das Entfernte zu sehen, oder seine Hand mühsam übt, bis sie Fingerfertigkeit genug erlangt hat, um die Tasten kunstgerecht zu greifen: so kasteite man sich selbst auf die mannigfachste Weise, damit man fähig würde, das Übersinnliche ganz in sich aufzunehmen. Allein, was man kasteite, war doch nur der sinnliche Mensch, das gemeine Bewußtsein, das sogenannte endliche oder gegenständliche Denken. Da dieses Denken jedoch, dieser Verstand, welchen Luther unter den Namen der Vernunft »anpfuit«, der Auffassung des Göttlichen unfähig ist, so trug seine Kasteiung gerade so viel dazu bei, die Wahrheit zu begreifen, als wenn man die Füße Jahr aus und Jahr ein im Tanzen übte und hoffte, sie würden auf diesem Wege endlich Flöten blasen lernen. – Erst Luther, mit welchem das sogenannte Mittelalter endet, begriff, daß der Mensch selber ein anderer werden müsse, wenn er die Wahrheit auffassen wolle, nämlich ebenso wahr, als die Wahrheit selbst. Nur wer die Wahrheit schon im Glauben hat, nur wer an sie glaubt , kann ihrer teilhaftig werden, d. h. nur der Gläubige findet sie zugänglich und ergründet die Tiefen derselben. Nur dasjenige Organ des Menschen, welches überhaupt aus den Lungen zu blasen vermag, kann auch das Flötenblasen erreichen, und nur derjenige Mensch kann der Wahrheit teilhaftig werden, der für sie das rechte Organ hat. Wer nur Sinnliches, Gegenständliches, Dingliches zu denken imstande ist, der stellt sich auch in der Wahrheit nur Dingliches vor. Die Wahrheit ist aber Geist, durchaus Unsinnliches, daher nur für das »höhere Bewußtsein«, nicht für das »irdisch gesinnte«.
Demnach geht mit Luther die Erkenntnis auf, daß die Wahrheit, weil sie Gedanke ist, nur für den denkenden Menschen sei. Und dies heißt, daß der Mensch fortan einen schlechthin anderen Standpunkt einnehmen müsse, nämlich den himmlischen, gläubigen, wissenschaftlichen, oder den Standpunkt des Denkens gegenüber seinem Gegenstande dem – Gedanken , den Standpunkt des Geistes gegenüber dem Geiste. Also: Nur der Gleiche erkennt den Gleichen! »Du gleichst dem Geist, den Du begreifst.«
Weil der Protestantismus die mittelalterliche Hierarchie knickte, konnte die Meinung Wurzel fassen, es sei die Hierarchie überhaupt durch ihn gebrochen worden, und gänzlich übersehen werden, daß er gerade eine »Reformation« war, also eine Auffrischung der veralteten Hierarchie. Jene mittelalterliche war nur eine schwächliche Hierarchie gewesen, da sie alle mögliche Barbarei des Profanen unbezwungen neben sich hergehen lassen mußte, und erst die Reformation stählte die Kraft der Hierarchie. Wenn Bruno Bauer meint: »Wie die Reformation hauptsächlich die abstrakte Losreißung des religiösen Prinzips von Kunst, Staat und Wissenschaft, also die Befreiung desselben von jenen Mächten war, mit denen es sich im Altertum der Kirche und in der Hierarchie des Mittelalters verbunden hatte, so sind auch die theologischen und kirchlichen Richtungen, welche aus der Reformation hervorgingen, nur die konsequente Durchführung dieser Abstraktion des religiösen Prinzips von den andern Mächten der Menschheit«: so sehe Ich gerade in dem Gegenteil das Richtige und meine, die Geisterherrschaft oder Geistesfreiheit – was auf Eins hinauskommt – sei nie zuvor so umfassend und allmächtig gewesen, weil die jetzige, statt das religiöse Prinzip von Kunst, Staat und Wissenschaft loszureißen, vielmehr diese ganz aus der Wertigkeit in das »Reich des Geistes« erhob und religiös machte.
Man stellte passend Luther und Cartesius zusammen in dem »Wer glaubt, ist ein Gott« und »Ich denke, also bin Ich« (cogito, ergo sum). Der Himmel des Menschen ist das Denken , der – Geist. Alles kann ihm entrissen werden, das Denken nicht, nicht der Glaube. Bestimmter Glaube, wie Glaube an Zeus, Astarte, Jehova, Allah usw. kann zerstört werden, der Glaube selbst hingegen ist unzerstörbar. Im Denken ist Freiheit.
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