Der eiserne Gustav
Heinz! Ich paß schon auf ihn auf!«
»Kröte! Unbotmäßige Sklavin! – Bitte, Frau Quaas, ich möchte meine beiden Federn haben. Sie sollen nicht sagen können, daß ich bloß Irmas wegen in Ihren Laden komme …«
»Natürlich tun Sie das! Natürlich sage ich das! Und es gibt auch noch einmal ein Unglück …«
»Was denn für ’n Unglück? Was denn für eines, Frau Quaas? Sehen Sie, da sagen Sie nichts, da werden Sie rot – verderbte Phantasie der älteren Generation! Sind wir darüber erhaben, was, Irma?«
»Angeber! – Ärgere dich nicht, Muttchen, hier hast du auch ’nen Süßen. Du mußt doch Heinz kennen. Der macht sich selbst mit großen Worten besoffen …«
»Und dich mit!« schluchzte die Witwe Quaas.
Irma, die Vierzehnjährige, sah ihre kleine vergrämte Mutter an. »Ach, Muttchen, um was ihr euch alles Sorgen macht! Als wenn wir Kinder nicht selber Verstand hätten! Ich habe doch auch Augen, Mutter. Ich weiß doch, was los ist mit den Männern …«
»Erlaube mal, Irma! Wenn du jetzt deine Ansichten über Männer niederlegen willst – ich mache dich aufmerksam, daß sie einem unverbürgten Gerücht nach in der Stadt schießen …«
»Also los! Tjüs, Mutter! Wenn’s spät wird, klopfe ich gegen die Scheibe.«
»Ach, Irma! Herr Hackendahl …!«
Sie liefen schon aus dem Laden.
3
»Latschen oder mit Dampf?« hatte Irma gefragt und »Mit Dampf, aber atmosphärisch!« zur Antwort bekommen.
Keuchend waren sie, zwei, drei Stufen nehmend, die Bahnhofstreppen hinaufgestürmt und in einen schon abfahrenden Zug gesprungen.
»Der Bulle hat nicht mal Zurückbleiben geschrien.«
»Hat wahrscheinlich momentan andere Sorgen, Tochter der Luft«, hatte Heinz geantwortet, aber selber nach Luft geschnappt.
Sie saßen einander gegenüber im Abteil, echte Kinder von vier Notjahren, Hungerkinder. Ziemlich hart, recht hundeschnäuzig, aber im allgemeinen, nämlich da, wo sie Wert darauf legten, völlig zuverlässig.
Sie waren so schlecht gekleidet, wie das nur in Zeiten möglich ist, wo ein heiler Anzug aus anständigem Stoff einfach nicht zu bekommen ist. Heinz trug irgendeinen aus den besten Stücken der Brüder zusammengestoppelten Anzug, viel zu kurz um Hand-und Fußknöchel, und auch schon wieder ziemlich geflickt. Irma hatte unter ihrem dünnen abgeschabten Mäntelchen ein Kleid, verwaschen, aber ein paar Flicken zeigten noch die ursprünglichen Farben. Der Rock reichte knapp bis zu den Knien, zu diesen Knien, an denen die Baumwollstrümpfe immer wieder gestopft waren. Das Schlimmste aber waren die Schuhe, Schuhe, die von den Besitzern immer wieder selbst geflickt waren, mit dicken, aufgenähten Rüstern, kreuz und quer gesteppt, mit aufgeklebten Flicken – und mit Holzsohlen, auf denen sie ohrenbetäubend klappern konnten.
Jetzt taten sie es, ohne Rücksicht auf den einen Mitfahrer im Abteil, denn sie froren an den Füßen. Der Zug war ungeheizt, die Scheiben zerbrochen …
»Lausig kalt!« sagte Irma. »Was ist der?«
»Irgend so’n biederer Gewerbetreibender ohne Ware. Denkt darüber nach, ob er nicht noch die Löcher im Käse verkaufen kann. Heh, Sie, Mitmensch!«
Der vor sich hin dösende Mitmensch schreckte zusammen. Er sah den jungen Mann verdrossen-müde an und sagte dann drohend: »Wennste, und du siehst heutzutage einen pennen, und du weckst ihn, biste ein Schwein und gehörst in die Schnauze geschlagen!«
»Abgestunken, Liebling!« jauchzte Irma.
»Ich möchte ja nur gerne wissen«, protestierte Heinz, »ob der Zug wirklich bis zum Potsdamer durchgeht …«
»Wieso denn nicht?«
»Weil sie in der Stadt schießen!«
»So? Wenn se schießen, wirstet schon merken, und der Zug, wenn er nich durchgeht, wirstet ooch merken!« sprach der Mann und drückte den Kopf in die Ecke.
»Philosoph der Gasse«, bemerkte Heinz nicht eben leise. »Stoiker des Weddings – siehe Branchenadreßbuch unter Mistik.« Er gähnte. Dann: »Hast du gemerkt, Irma, der Zug gähnt – vor Leere?«
»Nu sag noch, weil sie in der Stadt schießen. Du hast heute deinen hellen Tag, Heinz. Nicht satt geworden heute mittag, wie?«
Heinz schlug sich auf die »Kute«, dorthin, wo bei anderen der Bauch sitzt. »Nein!« rief er. »Seit Jahren nicht mehr! Ewig Hunger!«
»Und uns haben sie immer gesagt, wenn Frieden ist, kann man sich satt essen. Scheibenhonig! Die haben uns ’ne feine Jugend angerichtet!«
»Frieden – das ist doch nicht Frieden. Du hörst doch …«
»… sie schießen in der Stadt«,
Weitere Kostenlose Bücher