Der eiserne Gustav
ergänzte Irma. »Wenn du mir nun noch sagen würdest, warum sie eigentlich schießen?«
»Keine Ahnung! Aber wenn sie ’ne richtige Revolution machen, kann sein, das Militär macht nicht mit …«
»Was ist ’ne richtige Revolution?«
»Keine Ahnung! Die französische haste auf der Penne gehabt: Guillotine, Könige, Kaiser, Minister Kopf ab …«
»Wilhelm ist doch fort!«
»Also sieh nach Osten!«
»Alexanderplatz?«
»Quatsch! Rußland! Lenin …«
»Wer ist denn bei uns Lenin?«
»Keine Ahnung, vermutlich Liebknecht …«
»Magste den?«
»Quatsch! Weiß gar nichts von ihm. Bloß, daß sie ihn eingespunnt haben, weil er gegen den Krieg geredet hat …«
»Ist er denn jetzt wieder draußen?«
»Keine Ahnung! Aber das dürfte das Wesen der Revolutionen sein: Die draußen sind, werden eingespunnt, und die gebrummt haben, kommen wieder raus …«
»Potsdamer Bahnhof! Siehste, der Zug ist doch so weit gekommen. Mensch, Heinz, wenn du das schöne Fahrgeld ausgegeben hast, und es ist gar nichts los!«
»Sabbel nicht, Tochter der Quaasin! Erst taten, denn raten. Komm!«
Sie gingen nebeneinander durch den fast leeren, verdreckten Vorortbahnhof, kalt, wach, lebenshungrig. Schäbig angezogen und nicht übermäßig säuberlich gewaschen, liege es nun an der Kriegsseife oder an ihrer unbekümmerten Jugend.
Beide gelblich, kränklich blaß, beide schon faltig, beide mit großen Nasen, beide mit dunklen Ringen um die Augen. Aber beide mit dem gleichen kalten, klaren, ein wenig eisigen Blick, erschütternd illusionslos. Beide in jeder Beziehung verhungert, aber auch beide mit einem grenzenlosen Appetit auf alles – reinweg alles! Schön wie Häßlich, Kartoffeln oder Knochen, Hoch oder Gemein.
Sie gingen nach dem Potsdamer Platz zu, nebeneinander, ohne es zu wollen im gleichen Schritt, ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, sich zu berühren, den Arm zu geben, an der Hand zu fassen, ohne eine Spur von Zärtlichkeit.
Kalt – aber doch voll Licht!
Musterbeispiele des nicht tot zu kriegenden Lebens.
4
»Da!« sagte Heinz und blieb mit einem Ruck stehen.
Aus der Dessauer Straße bog ein großes Lastauto, bunt mit den farbigen Klecksen des Militärs bemalt, und auf ihm standen Matrosen, die Brust frei, in ihrer blauen Tracht. Die Mützenbänder wehten im Wind, weite, schicke Hosen trugensie. Sie hatten Gewehre in der Hand, Maschinenpistolen, zwischen ihnen drohte ein MG, über ihnen wehte eine rote Fahne.
Die Matrosen sangen. Sie sangen irgendein Lied, das im Getöse nicht zu verstehen war. Heinz sah nur, wie sich ihre Münder bewegten im Takt, und über den Mündern die klaren, kalten, scharfen Augen.
Etwas überlief ihn, er stieß aufgeregt Irma an. »Siehst du? Großartig!«
Sie nickte.
Hinter dem Auto, hinter der Handvoll bewaffneter Matrosen kam der Zug, der endlose Zug der Marschierenden. Viele Gestalten in Feldgrau, aber auch die nicht Feldgrau trugen, sahen grau aus. Sie schlurrten nebeneinander, ein endloser Zug, Männer und Weiber, Soldaten, Arbeiter, ein Mann im Bratenrock. Ein Bursche hielt ein Weib umgefaßt, das ein Kind auf dem Arme trug. Der Bote irgendeines Geschäfts schob seinen Handwagen mitten im Zug.
Sie schlurrten dahin, sie hielten nicht Takt, manche sangen. Manche sahen bloß starr vor sich …
Aber über ihnen wehten Fahnen, rote Fahnen, riesige, rote Tücher. Kleine Fahnen, hastig an Besenstiele genagelt, und große, lange, düster leuchtende Bahnen an dicken Stangen. Und über ihnen schwankten Schilder, schnell geschmierte Pappdeckel oder große, sorgfältig gemalte, die quer über den ganzen Zug reichten. Sie verlangten: »Friede, Freiheit, Brot!« – »Raus aus den Betrieben! Generalstreik!« – »Nieder mit dem Militarismus!« und »Brot! Brot!! Brot!!«
So zogen sie nach dem Potsdamer Platz zu. Am Straßenrand standen die Leute und schauten stumm. Denen riefen sie zu: »Kommt mit! Liebknecht redet!«
Manche schlossen sich zögernd an, manche willig, manche aber taten, als hätten sie nichts gehört oder wandten sich verlegen ab.
»Gehen wir mit, Heinz?« fragte Irma.
»Ja. Aber nebenher. Schaut mir zu lahm aus. Sieh, daß wirwieder an die Spitze kommen, in den Matrosen, da steckt Musike!«
»Großartig!« stimmte auch Irma zu, und sie drängten sich an der Seite des Zuges wieder nach vorn.
Aber plötzlich gab es ein Hindernis. Auf dem Gehsteig, ihnen entgegen, kamen zwei, drei Soldaten, Unteroffiziere, mit Pappkartons in der Hand. Sicher waren sie auf dem
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