Der Eiserne König
Morgen«, sagte sie. »Mach dich frisch.«
Während Hans sich wusch, saß die Muhme am Fenster. Über ihrem Kopf kräuselte sich der Pfeifenrauch; im Schein der aufgehenden Sonne nahm er geisterhafte Gestalten an. Hans hatte sich gerade angezogen, als ein Kultknecht klopfte, um sie in einen Saal zu führen. Im Kamin, dessen Umfassung mit Reliefs der Mischwesen aus Mensch und Tier verziert war, knisterte ein Feuer. Hans und die Muhme setzten sich an den gedeckten Tisch, aßen Weizengrütze und tranken Tee. Der Kultknecht wachte währenddessen drinnen vor der Tür.
Schließlich trat eines der weisen Weiber ein.
»Alles ist bereit«, sagte das Weib mit einer Verbeugung. »Ihr könnt aufbrechen.«
Die Muhme tupfte ihre Lippen mit einem Leinentuch ab. Sie nickte Hans zu und erhob sich. Der Diener führte die drei zur Eingangstür. Draußen vor dem Haus, das wieder wundersam klein wirkte, warteten die übrigen zwölf weisen Weiber. Vier gesattelte Pferde standen da, Kaltblüter mit zottigen Hufen, und im Gras saßen drei Personen, zwei Frauen und ein Mann. Beim Anblick von Hans kamen sie auf die Beine. Das älteste weise Weib humpelte zu ihnen, um sie vorzustellen.
»Deine Gefährten«, sagte sie. »Bessere findest du nicht.«
Hans sah die Muhme an. Sie hob die Augenbrauen.
»Das hier ist Sanne«, fuhr die Älteste fort und zeigte mit zitternder Hand auf eine zarte Frau. »Eine Fee hat sie reich beschenkt: Fällt ihr ein Haar aus, so ist es aus Gold; weint sie Tränen, so werden sie zu Perlen; und ihr Speichel verwandelt sich in Silber.«
Sanne versuchte zu lächeln, wobei sie den Mund fest zukniff. Ihre Augen waren kugelrund, ihre brünetten Haare straff nach hinten gebunden. Sie wirkte schüchtern, aber in ihrem Gürtel kreuzten sich die halbmondförmigen Klingen zweier Sicheln.
»Und dies«, sprach die Älteste und zeigte auf den Mann, »ist …«
Der Mann, kräftig, braungelockt und mit einem Zweihänder auf dem Rücken, der fast so lang war wie er selbst, drohte ihr stumm mit der Faust.
»Nun …«, fuhr die Älteste fort, »dies ist … der, dessen Name nicht genannt werden darf. Er ist bärenstark und bereit, mit euch durch dick und dünn zu gehen.«
»Und warum«, wollte die Muhme wissen, »darf sein Name nicht genannt werden?«
Der Mann warf ihr einen zornigen Blick zu.
»Wir nennen ihn Kunz«, erwiderte die zweite Frau. Ihr Haar war feuerrot, ihre Haut milchweiß, und ihre Augen waren pechschwarz. »So heißt er nicht wirklich. Aber wenn man seinen wahren Namen nennt, packt ihn eine Wut, wie man sie selten erlebt. Und das wollen wir gern vermeiden.« Sie war noch schöner als das jüngste weise Weib, aber ihr Blick war kühl. Sie lächelte nicht mit den Augen, sondern nur mit dem Mund.
»Sie heißt Sneewitt«, sagte das älteste weise Weib. »Sie ist eine meisterhafte Bogenschützin. Ihre Skrupel hat sie hinter den sieben Bergen verloren.«
»Pah!«, zischte Sneewitt, legte einen Pfeil auf und schoss dem Kultknecht die Kappe vom Kopf. Der Pfeil blieb zitternd in der Haustür stecken.
»Immerhin
ein
Lichtblick«, murmelte die Muhme.
Der Diener riss den Pfeil aus den Bohlen und starrte seine durchlöcherte Kappe an.
»Famoser Schuss.« Kunz klatschte Beifall. »Sie schießt dem Teufel aus einer Meile Entfernung einen Mittelscheitel in die nicht vorhandene Frisur«, sagte er hinter vorgehaltener Hand zu Hans.
Sneewitt, die seine Worte gehört hatte, spuckte aus.
»Der Teufel?«, fragte Hans verständnislos. »Wer ist das?«
Sanne sah ihn mit großen Augen an und sagte: »Ein Unhold mit rostbraunem Zottelfell, der in den Eichenwäldern des Gretings sein Unwesen treibt.«
»Das ist der Eisenhans«, bemerkte Sneewitt verächtlich. »Und er macht höchstens Kindern Angst.«
»Deine große Klappe möchte ich haben«, brummte Kunz.
Sanne lächelte Hans entschuldigend an.
Die Älteste humpelte an ihren Platz im Spalier der weisen Weiber. Sie hob die rechte Hand und sprach: »Möget ihr nie vom rechten Weg abkommen. Findet das Mädchen, das den Weg zur Esche weist, und bringt es wohlbehalten hierher.« Sie setzte zu einer Segensgeste an, aber ihre Hand zitterte zu sehr. Der Kultknecht öffnete die Tür, und die dreizehn weisen Weiber verschwanden nacheinander im Haus. Barbera drehte sich noch einmal um und warf Hans einen sehnsuchtsvollen Blick zu. Dann wurde die Tür zugeknallt. Riegel rasteten ein, ein Schlüssel knirschte im Schloss. Niemand konnte mehr ahnen, was das fensterlose, einsam auf
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