Der Eiserne Rat
Züge fahren nicht bis dahin.
Tatsächlich existiert im Rudewood ein Bahnhof an stillgelegten Schienen. Er modert seit langem vor sich hin. Judah wusste davon, hat ihn aber selbst nie gesehen. Ann-Hari fährt bis Spatters, dem gefährlichen Elendsviertel, wo die wenigen Garudas der Stadt hoch über den hoffnungslosesten ihrer Verlierer kreisen, und spaziert keck durch den Gestank und die verdreckten Straßen in den Wald und zu den überwucherten Ruinen des Bahnhofs und kommt zurück, nimmt den Zug nach Dog Fenn, um Judah davon zu erzählen. Durch sie lernt er New Crobuzon kennen.
Sie erzählt ihm vom Fuchsia House, von der BilSantum Plaza und dem Maskaron Park, dem Tepidarium der Kaktusleute, den zoologischen Gärten und anderen Orten, an denen er, falls überhaupt, als Kind einmal gewesen ist. Sie ist begeistert von den Märkten.
Judah verdient genug, um das Essen zu bezahlen, indem er die Passanten mit seiner hausgemachten Golemetrie unterhält. Eines Tages baut er eine kompaktere Figur aus Holz, mit beweglichen Gelenken aus verhakten Kettenösen. Er befestigt Schnüre an ihren Gliedern und, während er sie mittels Thaumaturgie zum Tanzen bringt, wackelt er mit einem Spielkreuz, als würde sie damit bewegt. Judah verdient erheblich mehr, wenn die Leute glauben, er ist ein Marionettenspieler, als wenn sie denken, er manipuliert unbelebte Materie.
Sie nehmen Zimmer in der Nähe der Kelltree Docks. Dort weckt sie jeden Morgen das Heulen der Fabriksirenen und der Aufmarsch der Werktätigen. Ann-Hari macht Bekanntschaft mit Rauschgifthändlern. Wenn sie heimkommt, sind ihre Pupillen geweitet, und sie bringt den beißenden Geruch von Shazbah mit. Oft bleibt sie über Nacht weg. Wenn sie bei Judah ist, schläft sie mit ihm und nimmt Geld von ihm.
Sie liebt lange Spaziergänge. Judah wandert meilenweit mit ihr, zwischen müßig schauenden Häuserzeilen, im Schatten der bunt durcheinander gewürfelten Architektur. Sie will von ihm wissen, weshalb dies oder jenes so und nicht anders gebaut ist, und er weiß keine Antwort. Einmal ist er bei ihr, als ein Khepripaar vorbeigeht. Ihre Schärpen sind zusammengeflochten, ihre Kopfbeine trillern, und sie versprühen Aromastoffe, ihr chymisches Tuscheln. Judah spürt, wie Ann-Hari zusammenzuckt, und zum ersten Mal in seinem Leben fällt ihm auf, wie bizarr die Khepri sind, hört er bewusst das Scherengeräusch ihrer Kieferbewegungen. Er bemerkt die Absonderlichkeit der ganzen Stadt.
Die Wirtschaft blüht. Die Leute haben Geld, und überall wetteifern Straßenkünstler um die Brosamen. Judah zeigt die Kunststücke seiner Golems neben Sängern und Musikanten, Akrobaten und Pflastermalern.
Für die Winterszeit ist es in der Stadt ungewöhnlich warm. Das Leben geht einen trägen Gang. Im Schein rot gefärbter Gasfackeln vollführt Judahs Golem seine Gambaden für die Studenten in Ludmead.
Die Studiosi der ersten Semester sind überwältigend jung, hoffnungsvolle Sprösslinge der Oberschicht und ein paar fleißige Beamtensöhne. Auch Frauen sind dabei, und sogar der eine oder andere Xenianer. Sie flanieren an Judahs tanzendem Manichino vorbei. Er ist nur wenig älter als die meisten von ihnen.
Einige geben ihm Heller, Taler und Schekel, die meisten geben nichts. Ein Jüngling, empfänglich für die Bewegungen der Figur und den Fluss der Thaumaturgonen, bleibt stehen und merkt, dass die Marionette nur Vortäuschung ist.
- Das ist mein Fachgebiet, sagt er. – Das ist unser Ressort hier. Ich bin in dem verdammten Somaturgie-Programm. Du besitzt die Frechheit, ausgerechnet bei uns deine zusammengepfuschten Kadabras vorzuführen?
- Tritt gegen mich an, sagt Judah.
Auf diese Weise hält der bei den Stiltspear beliebte Sport des Golem-Ringens Einzug in New Crobuzon.
Der kleine Trupp Studiosi wartet ab, während der arrogante Jüngling Judah mit schmalen Augen über die Brille hinweg taxiert, diesen von Wind und Wetter gebräunten, gegerbten Burschen, sehnig-muskulös, bekleidet mit Hemd und Hose aus dritter, vierter Hand. Sie feuern ihren Kommilitonen an, aber Judah spürt ihre Ambivalenz. Er begreift: Diese begüterten Söhne möchten lieber, dass ihr Kandidat – ein mittelmäßiger Knabe aus einer Handwerkerfamilie – gegen ihn verliert, den kompletten Außenseiter. Schiere Klassenloyalität veranlasst ihn beinahe, die Sachen zu packen und wegzugehen, aber schon wird Geld gezählt, und Judah schätzt die eigenen Chancen als gut ein: Er setzt auf sich selbst.
Er flüstert mit
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