Der eiserne Tiger
Versprechen abnahm, an Cheungs schönes, ebenmäßiges Gesicht. Komisch, welchen Gang die Dinge manchmal nahmen. Dabei waren sie doch wirklich gute Freunde gewesen. Und wie sollte es jetzt weitergehen?
Er reichte Janet den Becher. »Wo ist die Karte?« fragte er.
Hamid zog sie aus der Tasche seines Parkas. »Hast du vielleicht eine Idee?«
»Noch nicht. Wie weit ist es bis zum Dorf?«
»Hier ist das Dorf.« Hamid zeigte es ihm auf der Karte, die sie auf dem Boden ausgebreitet hatten. »Es heißt Chamdo. Bis zum Dorf sind es etwa fünf Meilen. Die Grenze liegt etwa fünfzig Meilen hinter dem Dorf.«
Drummond studierte die Karte gründlich und fragte dann mit gerunzelter Stirn: »Wohin führt denn dieser Pfad, der vom Dorf aus über den Berg führt? Oben auf dem Plateau liegt ein Gebäudekomplex, der sich Ladong Gompa nennt.«
»Ladong Gompa?« wiederholte Father Kerrigan aufgeregt. »Das ist ein buddhistisches Kloster. Im nächsten Tal ist ein Schrein, der früher einmal sehr berühmt war. Pilger sind über die Berge dorthin gegangen und haben in dem Kloster übernachtet. Ich glaube, aus diesem Grund ist es so hoch da oben erbaut worden. Der alte Khan hat mir einmal davon erzählt.«
Hamid warf einen Blick auf die Karte und schüttelte den Kopf. »Da müßten wir ja dreitausend Meter hoch hinauf, und es hat angefangen zu schneien. Das würden Father Kerrigan und Janet auf keinen Fall schaffen, Jack. «
»Aber Sie beide und der Junge könnten es schaffen«, warf Father Kerrigan ein.
Da hatte Drummond einen Einfall. »Wenn wir Pferde hätten, sähe die Sache schon ganz anders aus.«
»Pferde?« murmelte Hamid, als glaubte er, sich verhört zu haben. »Woher sollen wir Pferde nehmen?«
»Du hast doch selbst gesagt, daß es bis zum Dorf nur fünf Meilen sind. Wenn wir uns kurz vor Tagesanbruch anschleichen, dürfte es eigentlich nicht weiter schwierig sein, an die Pferde zu kommen.«
»Meinst du, wir alle?« fragte Hamid fassungslos.
Drummond schüttelte den Kopf. »Nein, nur wir beide. Die anderen können hier auf uns warten. Wenn wir mit den Pferden zurückkommen, können wir die Abkürzung über den Bergsattel reiten, und oberhalb des Dorfes stoßen wir dann auf den Pfad über die Berge.«
»Falls wir überhaupt mit Pferden zurückkommen.«
»Wir sollten es jedenfalls versuchen.« Drummond zuckte die Achseln. »Oder hast du eine bessere Idee?«
Hamid dachte eine ganze Weile nach und schüttelte dann bedauernd den Kopf. »Nein, Jack, mir fällt auch nichts Besseres ein. Wahrscheinlich bleibt uns gar keine andere Wahl.«
»Dann würde ich vorschlagen, daß wir uns jetzt schlafen legen. Wir müssen ausgeruht sein, sonst sind wir einer solchen Aufgabe nicht gewachsen.«
Janet reichte ihm eine Decke. In die wickelte er sich ein. Dann legte er sich neben Hamid und den alten Geistlichen. Erstaunlich, wieviel Wärme so ein kleines Öfchen verbreiten konnte. Auch der Tee hatte natürlich dazu beigetragen, daß er nicht mehr fror. Er sah Janet an, die mit gesenktem Kopf an die Kisten gelehnt dasaß. Der kleine Khan schlief mit dem Kopf in ihrer Armbeuge.
Was für eine wunderbare Frau. Der Kocher warf Schatten an die Plane, die sich hin und her bewegte, aufeinander zu und voneinander weg. Genau wie Menschen, ging es ihm durch den Kopf. Mal brauchen sie einander, dann auch wieder nicht. Mal vereinen sie sich, dann gehen sie wieder auseinander.
Trotz der eisigen Kälte, die sich im Laufe der Nacht im Lastwagen ausbreitete und durch alle Ritzen hereindrang, schlief er ausgezeichnet, so zwischen Hamid und dem alten Geistlichen eingezwängt. Sobald er erwachte, setzte er sich auf und entzündete das Öfchen. Die helle Flamme spiegelte sich in Kerims nicht verbundenem Auge. Drummond grinste den Jungen an, der dicht an Janet geschmiegt in der Ecke lehnte.
Er gebot ihm zu schweigen und sah hinaus. Es war die Stunde kurz vor Tagesanbruch, in der die Dinge wieder Form anzunehmen beginnen. Der Schnee lag längst nicht so hoch wie erwartet. Es mußte schon vor Stunden aufgehört haben zu schneien.
Seltsamerweise fühlte er sich ausgesprochen erfrischt. Er sprang in den Schnee hinab und atmete vergnügt die frische, kalte Luft ein - eine Wohltat nach der stickigen Luft im Lastwagen. Wie er so dastand, fiel ihm auf, daß sich die Bäume immer schärfer abzuzeichnen begannen. Da wußte er, daß sie bald aufbrechen
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