Der Eisplanet
Experimente vornehmen, die Sie quälten. In Kürze werden Sie uns sehen und zu uns sprechen können. Wir sind Freunde. Verzweifeln Sie nicht.
Hätte er einen Mund gehabt, er hätte geschrien, gebrüllt, gebettelt und gekrächzt. Aber er besaß nichts, nur seine Gedanken und Qual und Furcht. Dann wichen auch diese. Alles löste sich auf.
Dann, wie es schien, nur eine Sekunde später, existierte er wieder. Er konnte sehen. Er hatte keine Augen – konnte keine haben, denn er vermochte sie weder zu öffnen noch zu schließen. Aber er sah. Zuerst nur verschwommen wie durch beschlagenes Glas. Doch das war besser als die immateriellen Erinnerungsfetzen. Es war Wirklichkeit.
Angestrengt versuchte er, zu fokussieren (was und womit?), sich zu konzentrieren. Die verwaschenen Flecken schälten sich deutlicher heraus.
Er sah ein Mädchen. Für einen Moment war die Gestalt verzerrt, aber dann stabilisierte sich das Bild. Das Mädchen stand vor ihm und lächelte. Es trug eine Art kurzer Tunika. Es war schön, aber in diesem Augenblick hätte alles – ein Stein, eine Blume, auch ein Skelett – schön gewirkt, das jenes Gefängnis aus Finsternis ablöste.
Es begann zu sprechen, in dieser Sprache, die er verstand, aber nicht kannte. »Ich weiß, daß Sie mich sehen. Die Monitoren registrieren Ihre Reaktionen. Bitte sagen Sie etwas. Sie können jetzt sprechen. Versuchen Sie es.«
Er vergaß, daß er keinen Mund hatte. Er stellte sich einen Mund vor – Lippen, eine Zunge, eine Kehle, einen Kehlkopf. »Wer sind Sie?« Er hörte die Stimme – seine Stimme? Sie klang schrill, fistelte abscheulich.
»Einen Moment bitte.« Die Frau verschwand aus seinem Blickfeld, kam zurück. »Noch einmal. Die Übertragung war schlecht. Sie dürften eine angenehmere Stimme vorziehen. Versuchen Sie es noch einmal.«
»Wer sind Sie?« Nun klang die Stimme so tief wie das Scharren von Metall auf Holz.
»Verzeihung.« Wieder verschwand sie aus seinem Blickfeld. »Jetzt wird es klappen, glaube ich. Noch einmal, bitte.«
»Wer sind Sie?« Es klang nicht allzu übel. Es war nicht seine Stimme, aber immerhin eine, derer er sich nicht zu schämen brauchte.
»Ja, so ist es gut. So gefällt es mir ... Man nennt mich Zylonia. Das ist der Name einer winzigkleinen Blume, die sogar in totaler Dunkelheit blüht. Mögen Sie den Namen?«
»Seltsam, aber hübsch.« Er bemerkte, daß er englisch sprach, während sie jene fremdartige Sprache benutzte. Sie schien seine Gedanken zu ahnen und versuchte es mit Englisch – es war verheerend. »Isch hape Iere Schprachze schdudierd, aper sie ischd schwur, schwür – nein, schwer. Niemand schprichzd sie. Sie kännen maine Schprachze. Können Sie sie schprechzen?«
Er stellte fest, daß es ihm leichtfiel. »Wie habe ich sie erlernt? Ich entsinne mich nicht, sie gelernt zu haben.«
»Sie wurden programmiert, während Sie schliefen – nein, warteten. Mit Ihren Sprachzentren hatten wir viel Erfolg ... Erinnern Sie sich, wer Sie sind?«
Eine recht unschuldige Frage. Doch sie traf ihn wie ein Messerstich. Und sie bereitete ihm unsäglichen Schmerz. Ihm kam zu Bewußtsein, daß die Antwort zu den vielen bedrohlichen Dingen gehörte, die er so tief in die fernsten Winkel seiner Seele verbannt hatte ...
»Ich bin Idris Hamilton«, schrie er, »ich starb auf der Dag Hammarskjöld. Was habt ihr mit mir gemacht? Was habt ihr mit mir gemacht? «
Und wieder floh er in die Dunkelheit, floh vor allem und jedem. Sein Bewußtsein stürzte davon, zurück auf die Dag, zu Orlando, zu Suzy Wu, zu Leo. Dunkelheit. So kalt.
Er wollte sein Gesicht befühlen, über Gras laufen, Musik hören, Witze machen, ein schönes Mädchen küssen, er wollte atmen.
»KAPITÄN HAMILTON, BITTE ANTWORTEN SIE! ICH WOLLTE SIE NICHT ERSCHRECKEN!«
Die Stimme bedrängte ihn, während in ihm die Qual tobte. Zum Teufel, dachte er, wenn du nicht fortlaufen kannst, dann gib es auf.
Er brauchte keine Augen zu öffnen, um sehen zu können. Er mußte nur hinschauen.
Es stand noch dort, das Mädchen, das sich Zylonia nannte. »Falls ich nicht schon verrückt bin«, sagte er nüchtern, »so möchte ich es bald werden. Das scheint mir ein guter Gedanke zu sein. Ich wüßte nicht, was ich anderes tun sollte.«
»Kapitän Hamilton, Sie sind völlig gesund. Sie leiden lediglich unter einem Trauma. Wir werden nicht zulassen, daß Ihr Verstand Schaden nimmt.«
Es gelang ihm, zu lachen. Die Tonhöhe mißlang, aber der Laut klang ungefähr wie ein Gelächter.
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