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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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mitbringt. Bach vor allem. Henryk Szeryng spielt die Sonaten und Partiten für Violine solo, schnörkellos und entschieden. Ich liebe die spätere Aufnahme mehr als die frühe, auf der seine Violine, ich weiß nicht genau, ob es eine Stradivari ist, dunkelblau klingt. Ich habe Angst
    – was nehme ich für eine Rolle bei dir ein, Mauritz? Die eines Hofnarren? – Daran ist nichts Verächtliches. Du bist ein Philosoph. Einer, der die Wahrheit sucht. Das tue ich auch, aber im Unterschied zu dir versuche ich, das, was ich als Wahrheit erkannt habe, in die Tat umzusetzen. Du bist der Philosoph, ich bin der Tatmensch. Genügt das nicht? Vor zweitausend Jahren hat es genügt, und ich glaube nicht, daß seitdem wirklich etwas geschehen ist, abgesehen von Auschwitz und Gulag. Alexander und Aristoteles, das ist das Modell, soviel zu deiner Frage. Der Mächtige braucht jemand, der ihm einen Spiegel vorhält, der ihm die Wahrheit sagt und der auch den Mut hat, die Wahrheit zu sagen. Es ist in seinem Interesse, daß es einen Menschen, wenigstens einen, gibt, der ihm reinen Wein einschenkt. Er braucht ihn, um sein Werk zu errichten. Und um es zu erhalten. Das ist oft das schwierigere Geschäft. Das Werk erhalten. Vor diesem einen Menschen, der mit dem Mächtigen sehr vertraut sein, aber dennoch Abstand zu ihm haben muß, darf es kein Geheimnis und keine Eitelkeit geben. Das war der Fehler so vieler Herrscher: Sie hatten diesen einen Menschen nicht, und wenn sie ihn hatten, haben sie ihn nicht vertragen und ihn beseitigen lassen, weil er ihrer Eitelkeit nicht schmeichelte. Aber meine Eitelkeit ist mein Werk, nicht meine Person. Meine Eitelkeit ist es, diese Zeit aus ihrer Finsternis zu führen, den erschlafften Menschen wieder ein Ziel, eine Utopie, eine Hoffnung zu geben. Ich leiste mir dich, um mir die Kritik zu leisten, die mir hilft, mein Werk zu schaffen
    – an jenem Sommertag sah ich Frenss zum ersten Mal inUniform, er stand neben Mauritz auf einem Kommandostand, einer Art Tribüne über dem Exerzierfeld, das sich inmitten seines ausgedehnten Besitzes südlich von Berlin befand, Kiefern und Sand und hohe abschirmende Hecken, karger märkischer Boden, über den jetzt eine Kompanie Kameraden robbte, unter ihnen auch ich, schweißüberströmt in der Uniform, die Frenss aus alten Kampfgruppenbeständen der DDR für die Cassiopeia besorgt hatte. Der Oberst – Frenss war früher Kommandeur einer Spezialtruppe der Bundeswehr gewesen – und Mauritz erschienen mir als flimmernde schwarze Kleckse im Gegenlicht, aber ich machte weiter, denn ich wußte, daß Mauritz uns mit dem Feldstecher beobachtete, ich machte weiter in der metallisch treibenden Industrial-Musik, die aus den Boxen vor der Tribüne hämmerte, Manuela war vor mir, ich mußte alle meine Kräfte aufbieten, um zur Schmach, daß eine Frau mich besiegen konnte, nicht noch die kommen zu lassen, daß ich nicht alles gegeben hatte, um das zu verhindern
    – du wirst nicht zur kämpfenden Gruppe gehören, Wiggo, deshalb bekommst du nur die Grundausbildung, die bei uns jeder durchlaufen muß, ich erwarte, daß du die Zähne zusammenbeißt und trainierst, bis du körperlich wenigstens so weit bist, daß du eine Einheit durchhalten kannst, wie sie lachten, grinsten, die anderen, denen ich zugeteilt war, ein Zug, wie Frenss sagte, der uns mit nackten Oberkörpern hatte Aufstellung nehmen lassen, Mauritz hob die Hand, das Gelächter verstummte sofort: Kameraden! Ich erwarte, daß niemand über Kamerad Ritter lacht, der sich freiwillig der Ausbildung unterzieht, obwohl er im Strategischen Stab unserer Organisation tätig sein wird. Er hat ein Philosophiestudium mit glänzenden Noten absolviert, mit ihm stellt einer der besten jungen Köpfe des Landes seine Intelligenz in den Dienst der Organisation. Ich verlange Achtung, Kameraden! Dann hob Mauritzden Arm zum Gruß der Cassiopeia: gestreckter Arm, geballte Faust, wir hoben die Arme mit der geballten Faust zum Gegengruß, Kampf, sagte Mauritz, Kampf! brüllten wir zurück
    – eine Einheit: Frenss stellte die Motoren unter den Gladiatorenmühlen an, wie mein Nachbar im Zug sie nannte. Zwei Propeller, die an einer Achse befestigt waren und rotierten, sie bildeten einen Hundertachtzig-Grad-Winkel und waren nach außen versetzt, einer in Knieder andere in Schulterhöhe angebracht. Ich erinnerte mich an einen Spartacus-Film mit Kirk Douglas und wußte, bevor der Zugführer in eine der Mühlen sprang, was zu tun war. Zug – vorwärts!

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