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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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werden, nur so legst du alle Kraft hinein, paß auf, so, sagte Mauritz und ließ seine Faust in einer blitzschnellen, ansatzlosen Bewegung vorschnellen. Dirk öffnete den Mund und bekam glasige Augen, seine Arme, auf halbem Weg stehengeblieben, vollführten suchende, hilflose Bewegungen, Mauritz trat zur Seite, und Dirk glitt in sich zusammen wie weichgekochte Spaghetti, dann rutschte er zu Boden. Sein Kreislauf ist geschockt, und wenn ich ihn ein zweites Mal an dieser Stelle erwische, ist er hinüber. Ihr seht, daß es allein auf Geschwindigkeit nicht ankommt. Hinter jedem Faustschlagmuß die volle Körpermasse stecken. Möglichst viel Masse auf einen möglichst kleinen Punkt konzentrieren, darauf kommt es an, Kameraden. Die wirklich wirksamen Schläge zielen aufs Ohr, das Herz, den Solarplexus und den Kehlkopf. Dirk lag noch immer am Boden. Mauritz bückte sich: In ein paar Augenblicken ist er wieder da
    [ DOROTHEA R. {...}] manchmal, wenn er vom Arbeitsamt kam, erkannte ich ihn kaum wieder, wie er die Fäuste ballte und in der Küche seiner schrecklichen Wohnung, dieser Klosterzelle, Tassen und Teller in berserkerhafter Wut auf den Boden warf, wie er vor Verzweiflung stöhnte und dann manchmal einfach auf dem Stuhl zusammenklappte, den Kopf in den Händen barg und weinte, und wie ich ihn dann zu trösten versuchte und wußte, daß es nichts nützte, daß ich ihm nicht helfen konnte. Die lassen einen kaputtgehen, Dorothea, nichts, man kann nichts tun, es führt einfach kein Weg rein. Du hast in diesem Land keine Zukunft, und wenn du dich auf den Kopf stellst ... So verpufft deine Jugend, so wirst du verschwendet und beiseite geworfen, einfach pfft, er riß die Arme hoch, und dann begann er zu lachen. Das waren die Momente, in denen ich mich vor ihm fürchtete. Er lachte, hoch und schrill, ging ans Fenster, wippte auf den Absätzen, streckte die Hand aus, Daumen und Zeigefinger abgewinkelt: Paff, sagte er, paff, paff
    – die einzige Staatsform, die Schopenhauer sich denken konnte, erklärte ich in einer Pause, war die Despotie der Weisen und Edelen einer aechten Aristokratie, erzielt auf dem Wege der Generation, durch Vermählung der Edelmüthigsten mit den klügsten und geistreichsten Weibern, wie er schreibt. – Der Unterschied zu uns ist, sagte Mauritz, der mir wie alle anderen aufmerksam zugehört hatte,wir wollen den Umsturz durch Terror. Durch Generation, unter uns, Wiggo, das ist so lange Humbug, wie die Gentechnik nicht beherrscht ist. Erst dann kann man etwas tun. Die Schriftsteller und Intellektuellen jammern immer herum in ihren Büchern, klagen über die Unabänderlichkeit der Welt, die in Wahrheit eine Unabänderlichkeit des Menschen ist ... Man muß den Menschen verändern, um die Welt zu ändern ... Die Ideologien der Vergangenheit sind gescheitert damit ... Also muß an den physischen Grundlagen etwas geändert werden! Sie jammern, diese Intellektuellen, dabei ist jedes ihrer Bücher ein Lamentieren nach Utopia! Aber wenn es zum Treffen kommt und einer es in die Tat umsetzen will, kneifen sie den Schwanz ein ... Plötzlich ist es also nichts mit dem, das ihre Bücher anstreben ... Sie meinen es gar nicht ernst! Und deshalb kann man sie selbst auch nicht ernst nehmen ... Haben sie denn wirklich ein Interesse daran, die bestmögliche Gesellschaft zu errichten? Dort, wo alles gut ist, dort, wo Utopia verwirklicht ist, haben die Schriftsteller nichts mehr zu schreiben, die Philosophen nichts mehr zu philosophieren ... Der Weltzustand, wie er ist, liefert ihnen Stoff für ihre Existenz ... Immerhin, das, was wir vorhaben, ist eine sehr langfristige Aufgabe. Prinzipiell aber hat Schopenhauer recht. Elite. Geistesaristokratie. Es wird nicht in einer Generation geschehen. Es wird dauern. Aber es wird erfolgreich sein. Wir werden Märtyrer sein für die Erneuerung
    – eine Einheit: die Schießübungen. Ich empfand plötzlich, im Zustand großer Erschöpfung, in den mich die ungewohnte körperliche Verausgabung versetzt hatte, eine finstere Wollust dabei, die Pistole zu heben und zu schießen schießen schießen, bis das Magazin leer war, das Geräusch der ausgeworfenen Patronenhülsen, wenn ich den Abzug betätigte und wir eine Apfelsine oder eine Ein-Kilo-Packung Zuckerpulverisierten, unbeschreibliches Gefühl, etwas von Macht lag darin, von Endgültigkeit, Schlußmachenkönnen, Unwiderruflichkeit, es war die Reinheit der Entscheidung, die mich mit so tiefer Befriedigung erfüllte, daß ich über mich

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