Der Eisvogel - Roman
selber erstaunt war. Ich hatte geglaubt, kein sehr militaristischer Mensch zu sein. Mauritz hatte gesagt: Wer schießt, hat die Demokratie mit ihren Querelen, ihrem Grau in Grau, ihren Kompromissen, ihrer Legierungshaftigkeit, hinter sich gelassen. Er denkt nur noch in Schwarz und Weiß. On and off. Du oder ich. Freund oder Feind. Für mich oder gegen mich. Er ist Aristokrat im Moment des Handelns, er wirft seine Existenz in die Waagschale gegen die eines anderen. Der Kriegszustand, Kameraden, ist die konsequente Verkörperung des aristokratischen Gedankens, doch ist nicht mehr der Heldentod die konsequenteste Verkörperung, sondern das heldenhafte Leben. Heute ein König zu sein, gibt es nur noch einen Weg: am Leben zu bleiben für eine große Aufgabe
– Gegenlicht, das mich blendete, als der Kohlweißling aus dem Türchen purzelte, seinen Sturz aber sofort abfing und das Zickzacknähen seines Flugs begann
– die schwerste Übung: einen Schmetterling im Flug treffen, wer das schafft, ist ein Meisterschütze
– höre ich Mauritz’ Stimme, Dirks Achtunddreißiger neben mir blaffte los und stickte Lichtlöcher in das schwarze Papier vor dem Kugelfang, auch ich schoß, aber meine Hand zitterte von dem, was Mauritz als eine Einheit bezeichnet hatte. Der Schmetterling verschmolz mit dem Licht und war verschwunden. Dann war Manuela an der Reihe, die Aufgabe wechselte, lange, schmale Schießscheiben klappten auf. Sie stand mit geschlossenen Augen, die Waffe an den Lippen, mit dem Rücken zur Schußbahn. Ein Signal ertönte. Sie wirbelte herum, suchte Sekundenbruchteile die Silhouette, dannwar das dumpfe Dschug-Dschug schallgedämpfter Schüsse zu hören, bis in der Mitte der Figur, justiert durch konzentrische weiße Kreise, ein Loch entstanden war, nicht größer als das Zifferblatt einer Damenarmbanduhr. Manuela hob den Lauf, Rauch quoll aus dem Schalldämpfer, Frenss blickte durch den Feldstecher: Du bist nervös, Manuela
– am Leben zu bleiben für eine große Aufgabe, denn diese Gesellschaft ist beherrscht vom Sterben wie die überkommene Philosophie, die verstanden werden kann als Vorbereitung auf das Sterben: thanaton melete; wir aber setzen dieser Gesellschaft das Ideal der Unbotmäßigkeit entgegen ... Der größte Widerstand, die größte Unbotmäßigkeit gegen diese Gesellschaft ist, am Leben zu bleiben
[ PATRICK G. {...}] wir gaben Wiggos Adresse an. Es dürfte Sie wahrscheinlich weniger Mühe kosten als mich, nachzufragen, ob die Polizei ihn aufgesucht hat – wovon ich überzeugt bin. Ich las eine kurze Notiz über die Sache. Die beiden Skins waren in ein Krankenhaus gebracht worden. Dem ersten hatte Mauritz ein hübsches Schädel-Hirn-Trauma (Hirn?!) verpaßt, der hatte intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Ich recherchierte ein wenig nach. Ich dachte, vielleicht springt eine gute Story raus, immerhin bist du beim Fernsehen, besuchte Wiggo, aber der war fast zwei Wochen nicht da. In dieser Zeit war auch seine komische Philosophische Praxis geschlossen. Ich rief die Polizei an, aber die wurden gleich ganz grantig, als ich mich nach dem Fall erkundigte und sagte, daß ich vom Fernsehen bin. Der Beamte wollte die Personalien wissen in einem ziemlich undemokratischen Ton. Ich bohrte aber noch ein bißchen weiter, weil’s mich nun erst recht zu interessieren begann. Halten Sie sich da raus, Mann, den Tip kann ich Ihnen bloß geben, sagte der Typ und knallte den Hörer auf. AlsWiggo wieder da war, fragte ich ihn, ob es Ermittlungen gegeben habe, aber er zuckte nur die Achseln, schenkte mir einen steinernen Blick: Ermittlungen? Was für Ermittlungen?
[ POLIZEIBERICHT {...}] Prof. Hertwig, Leo. Verbindung zur Organisation Wiedergeburt von 1998 – 2000. Nach Aussage des H. Abbruch der Beziehungen wegen zunehmender ideologischer Differenzen. Der von R. erschossene K. sei ihm bekannt gewesen, er habe ihn auf Versammlungen mehrfach getroffen und gesprochen
– natürlich werdet ihr mich hassen. Das ist immer so, wenn einer das Sagen haben will und Gefolgschaft verlangt. Aber bedenkt, daß ich euch Orientierung gebe. Daß euer Haß erst durch mich definiert ist, da ich sein Objekt bin. Schon dafür, daß ich das erkenne, werdet ihr mich hassen. Aber ich opfere mich für euch. Ist es denn kein Opfer, wenn ich auf Zuneigung verzichte und mich freiwillig, sehenden Auges, eurem Haß aussetze? Indem ich als euer Bezugspunkt fungiere, erhält euer Leben Sinn. Das ist paradox und, meinetwegen, wenn ihr es
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