Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
alles?«
    »Ja, das ist die ganze Geschichte«, sagte ich und trank mein Bier aus. Damit waren die sechs Dosen leer. Im Aschenbecher lagen die sechs Dosenringe, wie abgefallene Schuppen einer Meerjungfrau.
    Natürlich war nicht wirklich nichts passiert. Einige sehr sichtbare, konkrete Dinge waren passiert. Aber davon wollte ich meiner Frau nichts erzählen.
    »Und dein Kumpel, was macht der jetzt?«, fragte sie.
    »Keine Ahnung«, antwortete ich. »Danach war was, und wir haben uns getrennt. Seitdem haben wir uns nicht wieder gesehen. Was er jetzt macht, weiß ich nicht.«
    Meine Frau schwieg eine Weile. Sie hatte wahrscheinlich gemerkt, dass ich irgendwie undeutlich blieb, vermied aber, diesen Punkt weiter anzusprechen.
    »Der unmittelbare Grund für die Auflösung eures Duos war aber die Sache mit dem Bäckereiüberfall, nicht?«
    »Ich glaube ja. Der Schock, den wir bei dem Vorfall erlitten, war offenbar viel größer, als es erst den Anschein gehabt hatte. Wir unterhielten uns danach noch tagelang über die Wechselbeziehung von Brot und Wagner: Ob die Entscheidung, die wir getroffen hatten, letztlich richtig war. Wir kamen aber zu keinem Ergebnis. Genau genommen musste sie richtig gewesen sein: Niemand war verletzt worden, jeder war fürs Erste zufriedengestellt. Der Bäcker – wozu, weiß ich zwar immer noch nicht – konnte seine Wagner-Reklame machen, und wir konnten uns den Bauch mit Brot vollschlagen. Trotzdem spürten wir, dass uns da irgendwie ein bedeutsamer Fehler unterlaufen war, und obwohl wir nicht begriffen, was für ein Fehler, warf er einen dunklen Schatten auf unser Leben. Deshalb habe ich eben das Wort Fluch benutzt. Es war ohne jeden Zweifel ein Fluch.«
    »Und, ist er jetzt weg? Dieser Fluch über euch?«
    Mit den sechs Dosenringen aus dem Aschenbecher bastelte ich eine Aluminiumkette, die ungefähr die Länge eines Armbands hatte.
    »Das weiß ich nicht. In der Welt scheint es von Flüchen nur so zu wimmeln, und wenn etwas Unangenehmes passiert, ist es schwer herauszufinden, welcher Fluch nun schuld daran war.«
    »Das stimmt nicht«, sagte meine Frau und sah mir dabei fest in die Augen. »Bei genauem Nachdenken kann man es herausfinden. Und solange du diesen Fluch nicht mit eigener Hand bannst, wird er dich quälen bis an dein Ende wie ein fauler Zahn. Und nicht nur dich, mich auch.«
    »Dich?«
    »Klar, dein Kumpel bin doch jetzt ich«, sagte sie. »Nimm zum Beispiel den Hunger, den wir jetzt haben. So einen wahnsinnigen Hunger habe ich vor unserer Heirat nie gehabt. Das ist doch kein normaler Hunger! Bestimmt hat der Fluch auch mich erfasst.«
    Ich nickte, löste die verketteten Ringe wieder voneinander und legte sie in den Aschenbecher zurück. Ich wusste nicht, ob das, was sie sagte, wahr war, aber als sie es sagte, leuchtete es mir irgendwie ein.
    Der Hunger, der eine Weile aus meinem Bewusstsein verschwunden war, kehrte zurück – stärker als zuvor und so heftig, dass mir wie wild das Hirn schmerzte. Sobald mein Magen sich zusammenzog, wurde das Zittern per Kupplungszug bis ins Zentrum des Kopfes übertragen, als wären in meinen Körper allerlei komplexe Maschinenteile eingebaut.
    Ich wandte meine Augen wieder dem unterseeischen Vulkan zu. Das Meerwasser hatte verglichen mit vorhin noch an Klarheit zugenommen; man hätte gar, wenn man nicht aufmerksam hinschaute, übersehen können, dass dort Wasser war – als schwebte das Boot ohne jede Unterstützung, durch nichts gehalten, in der Luft. Und die Steinchen auf dem Grund waren so deutlich zu sehen, als könnte man sie einzeln in die Hand nehmen.
    »Wir leben jetzt erst einen halben Monat zusammen, aber ständig habe ich eine Art Fluch um uns gespürt, bestimmt«, sagte sie. Sie sah mich fest an, die Hände dabei verschränkt auf dem Tisch. »Natürlich wusste ich, bis ich deine Geschichte hörte, nicht, dass es sich um einen Fluch handelt, aber jetzt ist mir das ganz klar: Du bist verflucht!«
    »In welcher Form spürst du denn diesen Fluch?«
    »Wie einen Vorhang, der jahrelang nicht gewaschen worden ist und staubig von der Decke hängt.«
    »Das ist kein Fluch, das bin vielleicht ich«, sagte ich lachend.
    Sie lachte nicht.
    »Nein, das bist nicht du. Das weiß ich genau.«
    »Angenommen, es ist, wie du sagst, ein Fluch«, sagte ich, »was zum Teufel soll ich dann tun?«
    »Noch einmal eine Bäckerei überfallen! Und zwar sofort«, sagte sie bestimmt. »Eine andere Möglichkeit, den Fluch zu bannen, gibt es nicht.«
    »Jetzt

Weitere Kostenlose Bücher