Der Elefant verschwindet
sei, den man nicht einfach opportunistisch in einem 24-Stunden-Restaurant stillen dürfe.
Was heißt aber besonderer Hunger ?
Ich kann das mit einem Bild veranschaulichen:
1 Ich sitze in einem kleinen Boot und treibe auf dem ruhigen Meer.
2 Unter mir im Wasser sehe ich den Gipfel eines Vulkans.
3 Der Abstand zwischen Gipfel und Meeresoberfläche scheint nicht allzu groß zu sein, ist aber nicht genau zu bestimmen.
4 Das Wasser ist nämlich zu klar, um eine Entfernungsbestimmung zuzulassen.
Das ist im Großen und Ganzen, was mir in den zwei oder drei Sekunden zwischen den Worten meiner Frau – in ein 24-Stunden-Restaurant zu gehen, habe sie keine Lust – und meiner zustimmenden Antwort – na ja, das stimme – durch den Kopf ging. Ich bin natürlich nicht Sigmund Freud und war deshalb nicht in der Lage, präzise zu analysieren, welche Bedeutung dieses Bild nun hat, begriff aber immerhin intuitiv, dass es sich um eine Art Offenbarungsbild handelte. Und gerade deshalb stimmte ich – der ungewöhnlichen Heftigkeit meines Hungers zum Trotz – der These (beziehungsweise Proklamation) meiner Frau, zum Essen nicht auszugehen, halb automatisch zu.
Notgedrungen machten wir das Bier auf. Bier zu trinken war immerhin viel besser, als Zwiebeln zu essen. Meine Frau mag Bier nicht so sehr, und deshalb trank ich von den sechs Dosen vier und sie die anderen zwei.
Während ich trank, durchsuchte sie emsig wie ein Eichhörnchen im November die Küchenregale und fand ganz unten in einem Beutel vier übrig gebliebene Butterkekse. Sie hatten bei der Herstellung eines Kuchens keinen Platz mehr gefunden, und obwohl sie feucht und ganz weich geworden waren, aßen wir andächtig jeder zwei.
Aber leider hinterließen weder das Bier noch die Kekse auch nur die geringste Spur in unseren Mägen, die so unendlich leer waren wie die Halbinsel Sinai aus der Luft betrachtet. Das Bier und die Kekse waren wie ein Ausschnitt aus einer am Fenster vorbeifliegenden kargen Landschaft, mehr nicht.
Wir lasen den Aufdruck auf den Aluminiumdosen, schauten immer wieder auf die Uhr, fixierten die Kühlschranktür, blätterten in der Abendzeitung vom Vortag und schoben mit dem Rand einer Postkarte die auf dem Tisch verstreuten Kekskrümel zusammen. Die Zeit war dunkel und träge wie ein verschlucktes Bleigewicht im Magen eines Fisches.
»So einen Hunger hab ich noch nie gehabt«, sagte meine Frau. »Ob das was damit zu tun hat, dass wir geheiratet haben?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. Vielleicht, vielleicht auch nicht.
Während meine Frau erneut auf der Suche nach Lebensmittelfragmenten die Küche durchstöberte, lehnte ich mich wieder aus dem Boot und schaute auf den Gipfel des unterseeischen Vulkans. Die Klarheit des das Boot umgebenden Meerwassers machte mich unheimlich unsicher, ein Gefühl, als wäre irgendwo tief in meiner Magengrube mit einem Schlag eine Höhle entstanden. Eine reine Höhle, ohne Ausgang, ohne Eingang. Dieses merkwürdige Fehlgefühl im Körper – ein Gefühl der Präsenz des Nichts – glich irgendwie, so kam es mir vor, der betäubenden Angst, die man auf der Spitze eines Turms empfindet, den man erklommen hat. Dass Hunger und Höhenangst Gemeinsamkeiten aufweisen, war eine ganz neue Entdeckung.
Genau in dem Augenblick fiel mir ein, dass ich früher einmal etwas Ähnliches erlebt hatte. Damals hatte ich den gleichen Hunger verspürt wie heute. Damals …
»Das war bei dem Überfall auf die Bäckerei!«, sagte ich spontan.
»Bei dem Überfall auf die Bäckerei?«, fragte meine Frau prompt.
Und damit nahm die Erinnerung ihren Lauf.
»Vor ewigen Zeiten habe ich mal eine Bäckerei überfallen«, erklärte ich. »Es war keine besonders große und auch keine bekannte. Auch war sie weder besonders gut noch besonders schlecht. Es war eine normale Bäckerei, wie man sie in jeder Stadt findet. Sie lag mitten im Geschäftsviertel, und der Meister buk und verkaufte das Brot alleine. Die Bäckerei war so klein, dass sie einfach zumachte, wenn das morgens gebackene Brot ausverkauft war.«
»Warum hast du denn so eine unscheinbare Bäckerei für deinen Überfall ausgesucht?«, fragte meine Frau.
»Eine große zu überfallen war nicht notwendig. Wir wollten nur genug Brot, um unseren Hunger zu stillen, Geld zu stehlen hatten wir nicht vor. Das war ein kleiner Überfall, kein Raubzug.«
» Wir? «, fragte meine Frau. »Wer ist denn wir? «
»Ich hatte damals einen Kumpel«, erklärte ich. »Ist aber schon über
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