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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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saß zusammen mit Wronski auf dem Pferd und setzte mit ihm über die Hürden, und ich hörte die Leute ihm zujubeln. Von den Zuschauerreihen aus sah ich Wronski vom Pferd stürzen. Als es draußen hell wurde, legte ich das Buch zur Seite und kochte mir in der Küche einen Kaffee. Die Szenen aus dem Roman, die immer noch in meinem Kopf herumschwirrten, und ein plötzliches Hungergefühl machten jeden Gedanken unmöglich. Es war, als wären Bewusstsein und Körper auseinandergedriftet und irgendwo eingerastet. Ich schnitt mir zwei Scheiben Brot ab, bestrich sie mit Butter und Senf und machte mir ein Käse-Sandwich. Ich aß im Stehen vor dem Spülbecken. Es kam äußerst selten vor, dass ich solchen Hunger hatte. Ich war so wahnsinnig hungrig, dass mir das Atmen schwerfiel. Nach dem einen Sandwich hatte ich immer noch Hunger. Ich machte mir ein zweites, aß auch dieses und trank noch einen Kaffee.
    3
    Meinem Mann sagte ich nichts über die Trance und darüber, dass ich bis zum Morgen kein Auge zugetan hatte. Nicht dass ich irgendetwas vor ihm verbergen wollte. Ich fand es einfach unnötig, ihm davon zu erzählen. Und auch wenn ich es ihm erzählt hätte, ich hatte doch schließlich bloß eine Nacht nicht geschlafen. Das kann jedem mal passieren.
    Wie jeden Morgen machte ich meinem Mann seine Tasse Kaffee und gab meinem Sohn heiße Milch zu trinken. Mein Mann aß einen Toast, mein Sohn Cornflakes. Mein Mann überflog die Morgenzeitung, und mein Sohn summte ein Lied, das er gerade gelernt hatte. Dann stiegen sie in den Bluebird und fuhren ab. »Sei vorsichtig«, sagte ich. »Mach dir keine Sorgen«, sagte mein Mann. Beide winkten. Genau wie immer.
    Als sie weg waren, setzte ich mich aufs Sofa und überlegte, was jetzt zu tun sei. Was sollte ich tun? Was musste ich tun? Ich ging in die Küche, machte die Tür vom Eisschrank auf und inspizierte den Inhalt. Selbst wenn ich heute nicht einkaufen ginge, wäre das kein Problem. Es gab Brot, Milch, Eier, und im Gefrierfach war auch noch Fleisch. Es gab Gemüse. Bis morgen Mittag war genug da.
    Ich hatte etwas bei der Bank zu erledigen, aber das musste nicht unbedingt heute sein. Ich konnte es genauso gut morgen machen.
    Ich setzte mich wieder aufs Sofa und las weiter »Anna Karenina«. Erst bei der jetzigen zweiten Lektüre fiel mir auf, dass ich eigentlich fast nichts vom Inhalt des Buches behalten hatte. An die meisten der auftretenden Personen und die meisten Szenen erinnerte ich mich nicht. Ich hatte das Gefühl, als würde ich ein mir völlig unbekanntes Buch lesen. Seltsam, dachte ich. Ich war beim Lesen sicherlich sehr berührt gewesen, und doch war nichts davon geblieben. Jede Erinnerung an Schauder oder Erregung, die ich damals empfunden haben musste, war fein säuberlich, ohne dass ich es bemerkt hatte, verlöscht.
    Was für eine Bedeutung besaßen dann überhaupt jene unzähligen Stunden, die ich damals mit Lesen verbracht hatte?
    Ich unterbrach meine Lektüre und sann eine Weile darüber nach. Doch ich fand keine Antwort, und kurz darauf hatte ich auch schon vergessen, worüber ich eigentlich nachdachte. Ich merkte nur plötzlich, dass ich geistesabwesend auf den Baum vorm Fenster blickte. Ich schüttelte den Kopf und las weiter.
    Kurz nach der Mitte des ersten Bandes entdeckte ich ein paar vertrocknete Schokoladenkrümel zwischen den Seiten. Ich hatte also Schokolade gegessen, als ich das Buch damals las. Bücher zu lesen und dabei zu essen war eins meiner größten Vergnügen gewesen. Mir fiel auf, dass ich seit meiner Heirat kein Stück Schokolade mehr angerührt hatte. Mein Mann mag es nicht, wenn ich Süßigkeiten esse, und auch meinem Sohn geben wir nur selten welche. Daher gibt es in unserem Haushalt nichts dergleichen.
    Als ich diese weiß verfärbten Schokoladenkrumen von vor über zehn Jahren betrachtete, überkam mich das dringende Bedürfnis nach Schokolade. Ich wollte wie früher »Anna Karenina« lesen und dabei Schokolade essen. Ich hatte das Gefühl, als ziehe sich jede Faser in meinem Körper vor Verlangen nach Schokolade zusammen.
    Ich warf mir eine Strickjacke über und fuhr mit dem Aufzug nach unten. Dann ging ich zu dem Süßigkeitengeschäft in der Nähe und kaufte zwei der am süßesten aussehenden Milchschokoladen. Kaum war ich aus dem Laden raus, machte ich eine auf und aß davon. Der Geschmack von Milchschokolade breitete sich in meinem Mund aus. Ich konnte spüren, wie die pure Süße von jeder Zelle meines Körpers aufgesogen wurde. Im

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