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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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alles gut. Denk nach. Nimm dich zusammen. Ganz ruhig. Denk nach. Irgendwas stimmt nicht.
    Irgendwas stimmt nicht.
    Aber was? In meinem Kopf staut sich dichte Dunkelheit. Sie bringt mich nirgendwo mehr hin. Meine Hände zittern immer noch. Ich ziehe den Schlüssel raus und versuche, ihn wieder reinzustecken. Doch meine Finger zittern, und ich kriege ihn nicht wieder ins Schloss rein. Als ich es noch mal versuche, fällt der Schlüssel zu Boden. Ich beuge mich nach vorne und versuche, ihn aufzuheben. Aber ich schaffe es nicht. Das Schaukeln ist zu stark. Beim Vorbeugen schlage ich heftig mit der Stirn gegen das Lenkrad.
    Ich gebe auf und falle in den Sitz zurück, bedecke mein Gesicht mit beiden Händen. Und weine. Ich weine nur noch. Die Tränen fließen und fließen. Allein, eingesperrt in dieser kleinen Schachtel, kann ich nirgendwo hin. Es ist tiefste Nacht. Die Männer schaukeln mein Auto immer noch. Sie werden es umstürzen.

Der Untergang des Römischen Reiches, der Indianeraufstand von 1881, Hitlers Einfall in Polen und die Sturmwelt
    1 Der Untergang des Römischen Reiches
    Sonntag. Kurz nach Mittag bemerkte ich, dass Wind aufgekommen war. Um 14.07 Uhr, um präzise zu sein.
    Ich saß gerade am Küchentisch, hörte harmlose Musik und trug dabei wie immer – das heißt, wie ich es immer sonntags nachmittags tue – das Wochenpensum in mein Tagebuch ein. Sonntags bringe ich die Tagesereignisse, die ich sonst nur in Stichpunkten notiere, gesammelt in eine schöne Form.
    Ich hatte gerade das Dreitagespensum bis Dienstag zu Papier gebracht, als ich das Heulen des Sturms draußen bemerkte. Ich unterbrach meine Arbeit, setzte die Kappe auf den Stift, ging auf den Balkon und holte die Wäsche herein. Sie schlug und tanzte in der Luft wie ein Haufen abgerissener Kometenschweife.
    Der Wind war, ohne dass ich es gemerkt hätte, nach und nach stärker geworden. Am Morgen – um 10.48 Uhr, um präzise zu sein –, als ich die Wäsche zum Trocknen auf den Balkon gehängt hatte, war nicht das leiseste Lüftchen gegangen. In diesem Punkt ist meine Erinnerung so solide wie eine Schmelzofentür. Ich hatte nämlich noch gedacht: An einem so windstillen Tag brauchst du nicht mal Wäscheklammern.
    Es hatte sich wirklich auch nicht der Hauch eines Lüftchens geregt.
    Nachdem ich die Wäsche geschickt zusammengelegt und gestapelt hatte, schloss ich alle Fenster. Danach war der Wind kaum noch zu hören. Wie Hunde, die es vor Juckreiz kaum aushalten können, wanden sich draußen lautlos die Bäume – eine Himalayazeder und eine Kastanie –, hasteten verschlagene Wolkenagenten aneinander vorbei über den Himmel. Auf dem Balkon der Wohnung gegenüber klammerten sich ein paar Hemden wie im Stich gelassene Waisenkinder in wilden Schlingen an und um die Plastikleine.
    Das ist ja ein richtiger Sturm, dachte ich.
    Aber in der Zeitung, die ich aufschlug, um die Wetterkarte unter die Lupe zu nehmen, war nirgendwo von einem Taifun die Rede.
    Die Wahrscheinlichkeit von Niederschlägen lag bei absoluten null Prozent. Wenn es nach der Wetterkarte ging, sollte heute ein friedlicher Sonntag sein wie zur goldensten Zeit des Römischen Reiches.
    Mit einem leichten, etwa dreißigprozentigen Seufzer faltete ich die Zeitung zusammen, verstaute die Wäsche im Schrank, schenkte mir, weiter harmlose Musik anhörend, einen Kaffee ein und schrieb, Kaffee trinkend, mein Tagebuch weiter.
    Am Donnerstag habe ich mit meiner Freundin geschlafen. Sie steht auf Sex mit verbundenen Augen. Deshalb läuft sie immer mit einer Stoffaugenbinde aus einem Flugzeug-Overnightbag herum.
    Ich bin nicht besonders versessen auf so was, aber weil sie mit Augenbinde unheimlich süß aussieht, habe ich auch nichts dagegen. Schließlich sind alle Menschen, jeder ein bisschen, irgendwo verrückt.
    Das ist so im Großen und Ganzen, was ich auf die Donnerstagseite des Tagebuchs schrieb. Achtzig Prozent Fakten und zwanzig Prozent Kommentar. Das ist meine Tagebucheintragspolitik.
    Freitag traf ich in einer Buchhandlung auf der Ginza einen alten Freund. Er hatte eine höchst merkwürdig gemusterte Krawatte um. Gestreift mit unzähligen Telefonnummern …
    An dieser Stelle läutete das Telefon.
    2 Der Indianeraufstand von 1881
    Als das Telefon läutete, zeigte die Uhr 14.36. Das wird sie – das heißt meine Freundin mit dem Augenbindentick – sein, dachte ich.
    Sonntags kam sie nämlich immer zu mir, und bevor sie kam, rief sie, das hatte sich so eingespielt, stets an. Sie würde

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