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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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die Zutaten fürs Abendessen mitbringen. Für diesen Sonntag hatten wir uns bereits auf Austerntopf geeinigt.
    Wie auch immer, als das Telefon läutete, war es 14.36 Uhr. Das weiß ich ganz genau, weil meine Uhr neben dem Telefon steht und ich jedes Mal, wenn es läutet, draufgucke.
    Aber als ich den Hörer abnahm, war nur das Heulen des Windes zu hören. »Huuuuuuh«, tobte es im Hörer wie beim konzertierten Indianeraufstand von 1881. Sie setzten die Hütten der Siedler in Brand, durchtrennten die Nachrichtenverbindungen und vergingen sich an Candice Bergen.
    »Hallo«, sagte ich, aber meine Stimme ging ungehört in den wilden Wogen der überwältigenden Historie unter.
    » HALLO «, donnerte ich, aber das Ergebnis war das gleiche.
    Ich meinte, gespannt lauschend, in den winzigen Päuschen des Windes die Stimme einer Frau gehört zu haben, aber das kann auch eine Sinnestäuschung gewesen sein. Jedenfalls tobte der Wind zu stark. Vielleicht hatte auch die Zahl der Büffel zu sehr abgenommen.
    Eine Weile presste ich wortlos den Hörer ans Ohr. So stark, dass er mir, hatte ich fast den Eindruck, am Ohr kleben bleiben würde und nie wieder zu entfernen wäre. Aber nach fünfzehn oder zwanzig Sekunden riss, als ob auf dem absoluten Höhepunkt eines Anfalls der Lebensfaden abgeschnitten worden wäre, die Verbindung ab. Danach blieb nur leere Stille, ohne Wärme, wie übermäßig gebleichte Unterwäsche.
    3 Hitlers Einfall in Polen
    Jungejunge, sagte ich mir und seufzte wieder. Dann machte ich mich an die Fortsetzung des Tagebuchs. Ich brachte es besser schnell hinter mich.
    Am Samstag fielen Hitlers hochgerüstete Truppen in Polen ein. Stukas, die auf Warschau …
    Halt, falsch. Zurück, marsch, marsch. Hitlers Einfall in Polen trug sich am 1. September 1939 zu. Das war nicht gestern. Gestern bin ich nach dem Abendessen ins Kino gegangen und hab mir »Sophie’s Choice« angesehen, mit Meryl Streep. Hitlers Einfall in Polen ist eine Szene aus dem Film.
    Die Streep lässt sich von Dustin Hoffman scheiden, lernt im Zug auf dem Weg zur Arbeit einen von Robert de Niro verkörperten Bauingenieur in den mittleren Jahren kennen und heiratet noch einmal. Das war ein wirklich interessanter Film.
    Neben mir saß ein Gymnasiastenpärchen, das sich die ganze Zeit gegenseitig am Bauch anfasste. Gymnasiastenbäuche sind wirklich nicht schlecht. Ich selbst habe früher auch mal einen gehabt.
    4 Und die Sturmwelt
    Nachdem ich das Pensum der vergangenen Woche ins Tagebuch eingetragen hatte, setzte ich mich vor mein Plattenregal und suchte nach Musik, die zu einem stürmischen Sonntagnachmittag passen könnte. Schließlich schienen mir Schostakowitschs Cellokonzert und eine Platte von Sly and the Family Stone eine angemessene Wahl, und ich hörte sie mir nacheinander an.
    Draußen flogen ab und zu von Ost nach West Objekte vorbei, ein weißes Laken in der Gestalt eines Graswurzeln köchelnden Zauberers zum Beispiel oder ein dünnes, längliches Blechschild, das seine schwächlichen Wirbel beugte wie ein Liebhaber des Analverkehrs.
    Zu den Klängen von Schostakowitschs Cellokonzert besah ich mir das Schauspiel vor dem Fenster, als wieder das Telefon läutete. Die Uhr neben dem Telefon zeigte 15.48.
    Ich nahm den Hörer ab und erwartete wieder diesen Boeing-747-Düsenmotorenlärm, aber diesmal war von Wind nichts zu hören.
    »Hallo«, sagte sie.
    »Hallo«, sagte ich.
    »Ich komm jetzt mit den Zutaten für den Austerntopf, wenn’s dir recht ist«, sagte meine Freundin. Sie war auf dem Weg zu mir – mit den Zutaten für den Austerntopf und der Augenbinde.
    »Klar, ist mir recht. Aber …«
    »Hast du einen Keramiktopf?«
    »Klar, hab ich«, sagte ich. »Aber was ist eigentlich los? Man hört ja gar keinen Wind.«
    »Der hat sich schon gelegt. In Nakano um 15.25 Uhr, also wird er sich bei dir wohl auch so langsam legen.«
    »Vermutlich hast du recht«, sagte ich, legte auf, nahm in der Küche den Keramiktopf aus dem Oberschrank und spülte ihn aus.
    Wie sie vorhergesagt hatte, legte sich der Wind von einem Moment auf den anderen um fünf vor vier. Ich öffnete das Fenster und schaute mir die Landschaft draußen an. Unter dem Fenster schnüffelte ein großer schwarzer Hund eifrig auf dem Boden herum. Er gab sich dieser Tätigkeit circa fünfzehn bis zwanzig Minuten hin, ohne genug zu bekommen. Warum Hunde so etwas tun, ist mir ein Rätsel.
    Aber davon abgesehen hatten sich das Aussehen der Welt und ihr System kein bisschen verändert.

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