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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Sie war wie vor dem Wind. Die Himalayazeder und die Kastanie standen arrogant auf dem Grundstück, als ob überhaupt nichts vorgefallen wäre, die Wäschestücke hingen schlaff von der Plastikleine, und ganz oben auf den Telegrafenstangen saßen Krähen und flappten mit ihren kreditkartenglänzenden Schwingen.
    Unterdessen kam meine Freundin und begann mit dem Austerntopf. Sie stand in der Küche, wusch die Austern, hobelte Chinakohl, legte den Tofu zurecht und bereitete die Brühe zu. Ich fragte sie, ob sie mich vielleicht um 14.36 Uhr angerufen hätte.
    »Habe ich«, antwortete sie, während sie in einem Sieb den Reis wusch.
    »Ich konnte kein Wort verstehen«, sagte ich.
    »Kein Wunder, das war ja ein Wind«, sagte sie völlig unbeeindruckt.
    Ich holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank, setzte mich auf die Tischkante und trank es.
    »Sag mal, warum weht plötzlich so ein starker Wind und legt sich dann Knall auf Fall wieder?«, fragte ich sie.
    »Tja, warum nur«, sagte sie. Sie stand mit dem Rücken zu mir und pulte mit den Fingernägeln die Schale von den Garnelen. »Vom Wind wissen wir vieles nicht. Genau wie von der Geschichte des Altertums, von Krebs, vom Meeresgrund, vom Weltraum und von Sex.«
    »Aha«, sagte ich. Diese Antwort war so gut wie keine. Da unser Gespräch zu diesem Thema aber keine großen Fortschritte zu machen versprach, fragte ich nicht weiter, sondern schaute mir stattdessen aufmerksam den Entstehungsprozess des Austerntopfes an.
    »Du, darf ich mal deinen Bauch anfassen?«, fragte ich sie.
    »Nachher«, sagte sie.
    Bis der Austerntopf fertig war, machte ich mir für die Tagebucheintragungen der nächsten Woche ein paar einfache Notizen der Ereignisse des heutigen Tages. Sie lauteten:
    1  Der Untergang des Römischen Reiches
    2  Der Indianeraufstand von 1881
    3  Hitlers Einfall in Polen
    Damit werde ich mich nächste Woche noch sehr präzise an das erinnern, was sich heute zugetragen hat. Gerade aufgrund dieses sorgfältigen Systems ist es mir gelungen, über nun zweiundzwanzig Jahre mein Tagebuch fortzuführen, ohne auch nur einen einzigen Tag auszulassen. Alle bedeutungsvollen Handlungen haben System. So lebe ich, ob der Wind nun weht oder nicht.

Scheunenabbrennen
    Ich hatte sie auf der Hochzeitsfeier eines Bekannten kennengelernt und mich mit ihr angefreundet. Das war vor drei Jahren. Wir waren fast zwölf Jahre auseinander, sie war zwanzig, ich einunddreißig. Aber das war nicht weiter wichtig. Es gab genug andere Dinge, über die ich mir damals den Kopf zerbrach, und ehrlich gesagt, hatte ich nicht die Muße, über so etwas wie Alter nachzudenken. Auch sie machte sich von Anfang an keine Gedanken darüber. Ich war verheiratet, aber auch das spielte keine Rolle. Dinge wie Alter, Familie und Einkommen schienen für sie genauso angeboren zu sein wie Schuhgröße, Stimmlage und Fingernägel. Es war nichts, woran man durch Denken irgendetwas ändern konnte. Da hatte sie recht.
    Sie nahm bei irgendeinem berühmten Meister Pantomimenunterricht und verdiente sich ihren Lebensunterhalt als Mannequin in der Werbung. Allerdings fand sie die Angebote der Agenten anstrengend und schlug sie immer wieder aus, sodass dieses Einkommen tatsächlich minimal war. Der restliche Teil schien vom Wohlwollen ihrer Liebhaber abgedeckt zu werden. Natürlich weiß ich nichts Genaues darüber. Ich schloss es aus verschiedenen ihrer Bemerkungen.
    Damit will ich allerdings nicht andeuten, dass sie für Geld mit Männern geschlafen hätte. Möglicherweise gab es ab und zu Situationen, die dem nahekamen. Aber selbst wenn es sie gab, war das für sie nicht wesentlich. Ihr Wesen war sehr, sehr einfach. Und ihre arglose, nicht der Vernunft gehorchende Einfachheit faszinierte bestimmte Leute. Konfrontiert mit dieser Einfachheit wollten sie die eigenen komplizierten Gefühle dieser anpassen. Ich kann es nicht besser erklären, aber so schien es mir jedenfalls. Ihr Leben beruhte gleichsam auf dieser Einfachheit.
    Natürlich hielt diese Wirkung nicht ewig an. Wenn so etwas ewig dauerte, würde es den Lauf der Welt auf den Kopf stellen. Es kann nur an bestimmten Orten und in bestimmten Momenten geschehen. Genauso wie beim »Mandarinenschälen«.
    Also das »Mandarinenschälen«.
    Als wir uns das erste Mal trafen, erzählte sie mir, dass sie Pantomime lerne.
    »Wirklich?«, sagte ich. Ich war nicht sonderlich überrascht. Junge Mädchen machen heutzutage alles Mögliche. Außerdem schien sie nicht der Typ zu sein, der

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