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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sich einer Sache ernsthaft widmete und es zu großen Fähigkeiten brachte.
    Und dann »schälte sie Mandarinen«. »Mandarinen schälen« bedeutet buchstäblich Mandarinen schälen. Links vor ihr stand eine große Glasschüssel mit einem Berg von Mandarinen und rechts eine Schüssel für die Schalen – das war die Anordnung –, in Wirklichkeit war da nichts. Sie nahm eine dieser imaginären Mandarinen in die Hand, schälte sie langsam, steckte ein Stück nach dem anderen in den Mund, nahm die Haut aus dem Mund und warf sie, wenn sie mit einer Mandarine fertig war, zusammen mit der Schale in die rechte Schüssel. Diesen Vorgang wiederholte sie unendliche Male. Wenn man es erzählt, ist es vielleicht nichts Besonderes. Aber als ich es tatsächlich zehn oder zwanzig Minuten lang direkt vor mir sah – wir standen am Tresen einer Bar und plauderten, und sie fuhr fast unbewusst beim Sprechen mit diesem »Mandarinenschälen« fort –, war mir, als würde mir jeglicher Realitätssinn entzogen. Ein äußerst seltsames Gefühl. Als Eichmann damals vor einem israelischen Gericht der Prozess gemacht wurde, meinten manche, die gerechte Strafe für ihn sei, ihn in eine hermetisch verschlossene Zelle zu sperren und ganz langsam die Luft abzusaugen. Ich weiß nicht genau, wie man dabei stirbt, aber daran musste ich auf einmal denken.
    »Du scheinst wirklich Talent zu haben«, sagte ich.
    »Ach was, das ist doch ganz einfach. Dazu braucht man kein Talent. Man darf nur nicht denken, dass hier Mandarinen sind , sondern man muss vergessen, dass hier keine sind . Das ist alles.«
    »Klingt wie Zen«, sagte ich.
    Seitdem mochte ich sie.
    Wir trafen uns nicht besonders häufig. Meist ein-, höchstens zweimal im Monat. Ich rief sie an und fragte, ob sie nicht Lust hätte auszugehen. Wir gingen zusammen essen oder tranken etwas in einer Bar. Und wir führten leidenschaftliche Gespräche. Ich hörte ihren Erzählungen zu und sie meinen. Wir hatten zwar kaum gemeinsame Themen, aber das störte uns nicht. Vielleicht waren wir so etwas wie Freunde. Natürlich bezahlte ich immer die Rechnung für das, was wir tranken und aßen. Manchmal rief auch sie mich an, meistens dann, wenn sie kein Geld, aber Hunger hatte. In solchen Momenten verdrückte sie unglaubliche Mengen.
    Wenn ich mit ihr zusammen war, konnte ich mich einfach entspannen. Ich vergaß die Arbeit, zu der ich keine Lust hatte, die langweiligen und sinnlosen Streits, die nie ein Ende fanden, und die albernen Gedanken alberner Personen. Es war eine Fähigkeit, die sie besaß. Was sie erzählte, war ohne große Bedeutung. Manchmal pflichtete ich ihr bei, ohne dem Inhalt des Gesagten genau zu folgen. Wenn ich ihr zuhörte, überkam mich eine träge Wohligkeit, wie beim Betrachten von in der Ferne dahinziehenden Wolken.
    Auch ich erzählte ihr alles Mögliche. Von persönlichen Dingen bis zu allgemeinen Ansichten sprach ich offen über meine Gedanken. Vielleicht stimmte auch sie mir zu, während sie genau wie ich die Worte an sich vorbeiziehen ließ. Wenn es so war, störte es mich nicht im Geringsten. Wonach ich mich sehnte, war ein Gefühl. Jedenfalls nicht Verständnis oder Mitleid.
    Im Frühling vor zwei Jahren war ihr Vater an einer Herzkrankheit gestorben, und sie hatte eine große Summe Bargeld geerbt. So stellte sie es zumindest dar. Sie wollte mit diesem Geld für eine Weile nach Nordafrika reisen. Warum gerade nach Nordafrika, war mir nicht klar, aber da ich kurz zuvor eine Frau kennengelernt hatte, die in der algerischen Botschaft in Tōkyō arbeitete, stellte ich sie ihr vor. Sie fuhr nach Algerien. Es ergab sich, dass ich sie zum Flughafen brachte. Sie hatte nur eine mit Kleidern vollgestopfte armselige Boston-Tasche bei sich. Als ihr Gepäck untersucht wurde, konnte man den Eindruck gewinnen, als kehre sie nach Nordafrika zurück und reise nicht erst dorthin.
    »Kommst du wirklich nach Japan zurück?«, fragte ich im Scherz.
    »Klar komme ich zurück«, sagte sie.
    Drei Monate später war sie wieder da. Sie hatte drei Kilo abgenommen und war braungebrannt. Und sie brachte einen neuen Liebhaber mit. Sie hatten sich wohl in einem Restaurant in Algier kennengelernt. Da es nur wenige Japaner in Algerien gab, hatten sie sich sofort angefreundet und waren bald darauf ein Liebespaar geworden. Soweit ich weiß, war dieser Mann ihr erster richtiger Freund.
    Er war Mitte bis Ende zwanzig und groß, war korrekt gekleidet und hatte eine höfliche Art zu reden. Sein Gesichtsausdruck

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