Der elektrische Kuss - Roman
Marzipantorten, selten Fisch, aber so sehr unterschieden sich die Mahlzeiten, besonders die am Sonntag, doch nicht von der, zu der Charlotte sie hatte einladen wollen. Es stimmte nicht, was ihr Vater gesagt hatte. Auch Amische aßen gern. Aus irgendeinem Grund hatte er Charlotte kränken wollen.
»Täufer essen weniger«, flüsterte Sarah schließlich zu der Seite des Bettes hinüber, wo ihre Freundin zusammengerollt lag. Gerade laut genug, damit sie sicher sein konnte, dass Charlotte es verstand. Das war die vierte Lüge in ihrem bisherigen Leben. Jede einzelne davor wusste sie noch genau.
»Schlaf gut«, murmelte Charlotte schließlich versöhnlich, denn sie sah ein, dass sie aus Sarah nichts mehr herausbekommen würde. Beide schliefen lange nicht ein, sondern horchten auf die Geräusche der fremden lauten Stadt, die auch in der Nacht nicht aufhörten.
Fünf Tage brauchte Samuel, um ein geeignetes Schiff mit dem Zielhafen Philadelphia zu finden. Dann dauerte es noch einmal zwei Wochen, bis die »Good Intent« den Anker lichtete. Sie war ein verhältnismäßig kleiner Zweimaster von 150 Tonnen, der der Firma Archibald und Isaac Hope gehörte und unter dem Kommando von Kapitän Benjamin Boswell stand.
Zwei Decks standen zur Unterbringung der Passagiere zur Verfügung, in die Zwischenböden eingezogen waren, die man wiederum in Quadrate von sechs Fuß eingeteilt hatte. Als Samuel zum ersten Mal seinen Kopf tief einzog, in die Knie ging und in diese Verschläge schaute, meinte er die besonderen Trockenkammern zu erkennen, in denen nach Noahs Schilderungen die Brüder in Zweibrücken ihren Klee zu Heu machten. Hier war es der Raum, der für ungewiss lange Zeit fünf Erwachsenen zum Sitzen und Schlafen zur Verfügung stand. Aufrecht stehen konnte niemand, da die Höhe nur drei Fuß betrug. Kinder mussten schauen, wo und wie sie sich dazwischenzwängen konnten.
Weil sich die Eigner der »Good Intent« an das Gesetz des Staates Pennsylvania zur Beschränkung der menschlichen Frachten, das erst vor zwei Jahren erlassen worden war, hielten, bekamen die Hochstettlers und Uri also eine Bettstelle von knapp zwei Fuß Breite und sechs Fuß Länge zugewiesen. Jede einzelne Goldmünze bedächtig abgreifend und noch eine Weile in der Hand haltend, weil er nur schlecht abschätzen konnte, welche Ausgaben in der Neuen Welt auf ihn zukommen würden, legte Samuel für sich und seine Familie 180 Gulden zurück, steckte sie in einen Lederbeutel, den er unter sein Hemd schob. 180 Gulden waren viel Geld, für das man viele Rinder schlachten musste und Säcke voller Kleesamen für viele Felder kaufen konnte. Weil Jakob noch nicht fünf war, kostete seine Fracht nichts. Gezahlt werden musste bei Ankunft.
Charlotte buchte für sich alleine fünf Plätze. Insgesamt 76 Passagiere, die meisten aus deutschen Ländern, bestiegen mit ihren Kisten, Kindern und Hoffnungen auf bessere Zeiten den Bauch der »Good Intent«.
Das Meer machte sie beim ersten Anblick fassungslos und dann überglücklich. Kaum hatte die »Good Intent« den Rotterdamer Hafen verlassen, standen Samuel Hochstettler und Charlotte von Geispitzheim auch schon an Deck und klammerten sich an die Reling. Als ob verabredet, immer weit auseinander, aber auf derselben Seite des Schiffes, die, wie Charlotte schnell lernte, Portside hieß oder Larbord, wie manche der englischen Seeleute auch sagten. Dass eine rote Lampe dort hing, ergab für Samuel einen Zusammenhang. Allerdings schwankte er bei dessen Ausdeutung. Rot konnte natürlich Sünde bedeuten, aber auch Mensch. Weil Adam in der Sprache des Alten Testaments Mensch hieß, und den hatte Gott bekanntlich aus roter Erde geformt. Am wahrscheinlichsten aber schien es Samuel, dass die Lampe, diejenige Lampe war, mit deren Hilfe die Braut zu ihrem Bräutigam fand, vorausgesetzt, sie füllte immer genügend Öl nach. In seinem speziellen Fall wurde ihm auf dieser Seite des Schiffes der Weg ins neue Jerusalem gewiesen, wo die Hochzeit mit dem Herrn gefeiert werden würde, weil er dort in Zukunft den wahren Glauben ausüben und der Welt hoffentlich ganz den Rücken kehren konnte.
Die Lampe an der Portside war auch deshalb rot, weil Jesus ’ Blut vergossen worden war. Diese Logik erfüllte ihn mit großer Genugtuung, auch wenn es bei dem starken Wind ziemlich mühsam war, den Hut immer wieder festzuhalten, sodass er in der kurzen Zeit, seit sie im Ärmelkanal fuhren, schon ziemlich zerdrückt war.
Hie und da tauchten zwei, drei
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