Der elektrische Kuss - Roman
zwischen dem Täufer und der Elektrikerin brach, kaum dass sie sich auf ausländischem Boden befanden, auseinander, als ob Dufay oder Grey für eines der Experimente mit dem Fluidum einen gesplissten Faden verwandt hätten.
Allein am Tisch futterte Charlotte so viel von den Köstlichkeiten, wie sie nur konnte. Die beiden englischen Kaufleute und der Kurier des bayerischen Kurfürsten, die ebenfalls in der engen Gaststube saßen, prosteten ihr zu, und sie lud sie ein, von den Muscheln in Weinsauce zu probieren. Der Rest wurde auf ihren Befehl für die Armen vor die Tür gestellt. Der leidlich gute Wein reichte nicht, um ihre Enttäuschung hinunterzuspülen, und so scherte sie sich auch nicht darum, als sie später ins Bett kroch, dass Sarah schon schlief und sie ihre Freundin aufweckte.
»Ist es, weil ich ein Kind bekomme und keinen Vater dafür habe, ist es das?«
»Nein, das nicht. Alle Kinder sind Gottes Geschenke.«
Das war der längste Satz, den Charlotte von Sarah seit ihrer Abreise aus der Pfalz gehört hatte. Das allein schon rührte sie. Trotzdem ließ sie nicht locker.
»Also warum meidet er mich, habe ich die Pest?«
Sarah antwortete nicht. Stattdessen atmete sie seufzend in das klamme, seit Langem nicht mehr aufgefüllte Kopfkissen. Sie hatte ihren Kopf mit dem Gesicht absichtlich nach unten gedreht, denn wenn sie in der durch die Straßenlaterne ausgeleuchteten Dunkelheit nach oben schaute, überkam sie das Gefühl, als fielen die schwarzen Balken, die einer neben dem anderen die Decke des Zimmers trugen, gleich auf das Bettzeug. Und wenn sie einen Fuß ausstreckte, stieß er entweder ans Fenster oder an die Tür. Diese Enge machte es ihr unmöglich, vor Charlottes Fragen zu verschwinden und ganz in sich hineinzukriechen, wo die Schreie der Mutter zwar mittlerweile aufgehört hatten, es im Gegensatz zu draußen aber allemal sicherer, weil ohne gefährliche weltliche Versuchungen war. Dementsprechend unbehaglich fühlte sie sich. Natürlich dachte sie über ihren Vater nach. Natürlich fand sie sein Benehmen unhöflich. Aber darüber würde sie nicht reden, nicht einmal flüstern. Schon gar nicht zu Charlotte. Menschen aus der Welt wurden gewöhnlich von Amischen mit sanfter Nichtbeachtung behandelt. Man wollte am liebsten gar keinen Kontakt mit ihnen, und wenn doch, galt es, auf jeden Fall Streit zu vermeiden, damit man selbst nicht auffiel und sich abschotten konnte. Umso mehr verwunderte es Sarah deshalb, dass ihr Vater so ungewohnt rabiat mit Charlotte umging. Dabei verdankten sie ihr doch Jakobs Leben. Außerdem hatte nicht Charlotte sie zum Tanzen gebracht, sondern sie selbst hatte die Freundin überredet, es ihr beizubringen. Das alles hatte sie auch dem Vater gesagt, nachdem der Älteste sie nach Hause gebracht und in der Stube des Muckentalerhofes eine Ahnung von dem aufkam, wie sich das Jüngste Gericht einmal abspielen würde. Warum aber brachte Charlotte ihren Vater so aus seiner sonstigen Gelassenheit? Früher hatte sie ihn nie zornig oder heftig erlebt. Sarah kam ins Grübeln.
Der Tod ihrer Mutter hatte vieles schwierig gemacht. Wirklich verändert aber hatte sich das Leben erst durch Charlotte. Durch sie war alles … irgendwie pistaziengrüner geworden. Das war die Farbe der feinen Pantoffeln, die ihr die Freundin geschenkt hatte. Ein anderes Wort für den Wandel auch ihrer eigenen Gefühle und Wünsche fiel Sarah beim besten Willen nicht ein.
»Sarah! Ich weiß, dass du mich hörst. Soll ich so laut sprechen, dass Jakob aufwacht.«
Noch ein Seufzer, mehr nicht. Charlotte wartete und atmete fast knurrend laut, so dass das Zimmer für Sarah noch enger wurde. Noch immer waren Wagen und Pferdehufe zu hören. Unten auf der Straße zogen grölend Männer vorbei, offensichtlich betrunken, ein Stück weiter blieb einer von ihnen stehen und pinkelte plätschernd gegen eine Hauswand. Komischerweise knackten dabei die Balken über ihnen. Charlotte überkam große Lust, Sarah aus ihrer Starre zu rütteln und sie an das Tanzen in der Scheune zu erinnern, an ihre Haare, die offen geschwebt und in der Kälte geklirrt hatten. Sie wollte sie nach der Meidung und anderen frommen Foltermethoden fragen und auf diese Weise ihren Panzer aufbrechen.
Sarah dagegen dachte immer noch über ihren Vater nach. Und über das Essen, das sie zu Hause auf dem Tisch gehabt hatten. Geflügel, Schweinefleisch gesotten und gebraten, prall gefüllte und gut gewürzte Würste, dazu auch Wein. Keine Muscheln und
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