Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
Vom Netzwerk:
öffnete hastig die Luke, die nach unten führte, so dass der Deckel knallte, und stieg noch schneller die schmale Treppe hinunter. Die schöne gemauerte Mistgrube!
    Der weitgereiste Louis hatte ihr in ihrer Verlobungszeit schließlich beigebracht, Englisch zu sprechen, und seitdem hatte sie auch genug englische Bücher gelesen. Die ersten Sätze kosteten sie Überwindung, aber dann machte es Charlotte Freude, in dieser Sprache zu schwimmen. Außerdem genoss sie die Abwechslung. Der für seine Stellung noch junge Mann mit kantigem, frostigem Gesicht, aber klugen wasserblauen Augen ließ sie durch sein Fernrohr schauen, erklärte die Funktion der einzelnen Segel und versprach ihr, Bescheid zu geben, sobald die Isle of Wight in Sicht kam. Mit einer ebenso knappen Verbeugung verabschiedete er sich von Charlotte. Als es dann soweit war, schlief sie. Die »Good Intent« fuhr in der Morgendämmerung sicher in die Mündung des Flusses Medina und in den Hafen von Cowes, ohne dass sie einen der berüchtigten Stürme im Ärmelkanal hatten überstehen müssen. Dementsprechend unbekümmert und arglos war die Stimmung der Passagiere.
    In Cowes fand die endgültige Verproviantierung des Schiffes statt. Fünf Schweine wurden an Bord getrieben und in einen Verschlag im Zwischendeck gesperrt. Händler, die auf der Insel ausschließlich vom Geschäft mit den Amerikafahrern lebten, brachten Säcke voller getrockneter Erbsen, Bottiche mit eingesalzenem Fleisch, Zwieback und Bretter, auf denen sich frische Brotlaibe stapelten. Der meiste Platz aber wurde für die Fässer mit frischem Trinkwasser gebraucht. Nicht nur das Verladen kostete Zeit, sondern auch das Warten auf günstigen Wind.
    Deshalb überredete Charlotte Sarah zu Spaziergängen an Land. Eingehängt trippelten sie die Reihe kleiner, reetgedeckter Häuser entlang, die Wind und Regen ausgebleicht hatten. Längst an die Fremden gewöhnt, die ihre Insel regelmäßig heimsuchten, gingen die Frauen und Kinder ihren alltäglichen Beschäftigungen nach, wuschen ihre Wäsche, buken Brot oder flickten andächtig Netze. An zwei sonnigen Tagen hintereinander wanderten die Freundinnen den steinigen Strand entlang, hoben Muschelschalen auf und erschraken nicht einmal mehr, wenn die schreienden Möwen unvermutet neben ihnen herabstießen. Diese Ausflüge, so gut sie nach dem Eingesperrtsein taten, waren ein großer Fehler. Denn die Matrosen, die in dem Inselhafen nicht mehr so hart arbeiten und häufig Wache schieben mussten wie unterwegs, fanden Gelegenheit, sich die beiden Frauen anzuschauen. Auch Charlotte war schöner geworden. Ihr Busen und ihre Hüften hatten sich gerundet, und diese neuen weichen Formen balancierten ihre Nase aus. Sarah tauchte überhaupt zum ersten Mal vor den Augen der Seeleute auf. Eingepackt wie immer in ihren Kokon aus Haube und sperriger Tracht. Umso mehr fiel ihr Gesicht auf. Blass und getupft und dabei so kostbar wie Meißner Porzellan. So dass die Männer, von denen viele gepresst worden waren, sie gierig und aus den Mundwinkeln triefend angafften, sich gegenseitig in die Seite stießen und sich nachts, wenn sie in ihren Hängematten lagen, ausmalten, was sie mit dem süßen scheuen Vögelchen alles anstellen würden.
    Bei einem dieser Ausflüge, der dieses Mal zur alten Befestigungsburg aus der Tudorzeit führen sollte, winkte ihnen plötzlich Mr. Abercrombie zu und gab Zeichen, dringend näher zu kommen. Zusammen mit Einheimischen stand er bei einem der Fischerboote. Auf seinen Befehl rollte ein Schiffsjunge eiligst ein nicht allzu großes Fass heran und füllte Meerwasser hinein, während Abercrombie mit einem der Fischernetze hantierte.
    »Das wird Sie interessieren, Miss von Geispitzheim«, rief er, als sie näher kamen, schaute gleich wieder gebannt in das Fass. Die Leute, alte und junge Männer mit fast gleich verwitterten rotbraunen Gesichtern und strähnigen langen Haaren traten zur Seite und öffneten eine Gasse für die beiden Frauen.
    »Ein Schatz?«, fragte Charlotte.
    »Fast. Auf jeden Fall ein seltener Fang.«
    Zuerst erkannte Charlotte in dem Fass gar nichts. Auch Sarah, die kein Wort Englisch verstand, beugte sich vor, und was sie am Grund des Wassers sah, erinnerte sie an einen ausgerollten Teig, allerdings aus dunklem Mehl. Aber das sagte sie nicht, sondern versteckte sich gleich wieder hinter Charlottes geblümtem Kleid. Als nächstes stocherte Abercrombie mit einem Stock in den Teig hinein und sofort zuckte dieser zusammen und krümmte

Weitere Kostenlose Bücher