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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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Mastbäume und geblähte Segel am Horizont auf, die jedoch weder Charlotte noch Samuel interessierten. Was zählte war das, was sie die Gründe vergessen ließ, weshalb sie diese halsbrecherische Gefahr auf sich nahmen: die schiere Unfassbarkeit des Meeres.
    Je mehr er stand und schaute, desto mehr vergaß Samuel, in welchem der Evangelien das eine oder andere geschrieben stand. Es gab Stunden, in denen er kein einziges Mal mehr zu der roten Lampe sah. Dafür erwiderte er in einem besonders wellenüberschäumenden Moment Charlottes Blick, in dem auch ihre Begeisterung über genau dieselben wagemutigen Wellenkämme abzulesen war. Und das, obwohl sie wie immer weit genug voneinander entfernt standen. Sie mit offenem Haar, das zum Meer hinauswehte, westwärts, jedenfalls ungefähr in die Richtung, in der sie Amerika vermutete. Bevor die nächste Welle, die nächste Gischt zu ihnen hochsprühte, hatte er sich schon wieder umgedreht. So dass sie auch nicht die Freude sah, die sein Gesicht weicher werden ließ.
    Bleigraue Spiegel, matt schimmernd, lange genug auf den Wellenkämmen unterwegs, dass man es ewig nennen konnte, zersplitterten jäh silbrig klein. Nimmersatt versuchten die Augen, die Einzelteile festzuhalten, doch sie waren unwiederbringlich weg. Zerstört, versunken, zurückgekehrt? Nichts, aber auch gar nichts mehr war von ihnen in den Schaumkronen zu finden, so sehr die beiden auch auf die eine bestimmte Stelle starrten, die gerade eben noch die schönste gewesen war. Um sich zu trösten, mussten sie sich an einen gerade geborenen, zuerst sanft, dann schnell und mächtig aufbäumenden Hügel klammern. So erlebten Charlotte und Samuel mit, wie sein dunkleres, unpoliertes Graphit selbst unter einem trüben Wolkenhimmel aufhellte. An seiner höchsten Spitze ließ sich in dem winzigen Moment, in dem der Wellenkamm in sich zusammenstürzte, ein makelloses, gleißendes Grün erhaschen. Genauso gut konnte es aber auch sein, dass der Wasserberg rund und lasch blieb, keinen Höhepunkt schaffte und von dem nächsten, der heranschob einfach untergepflügt wurde.
    Es kam vor, dass Charlotte in diesen unendlichen Massen Stellen entdeckte, die ihr irgendwie anders, auf jeden Fall auffallend vorkamen, eine Spur grüner, gelber oder abwärtsstrudelnder. Sie zwickte ihre kurzsichtigen Augen noch mehr zusammen, schmeckte das Salz auf ihrer Zunge fast körnig und vermutete viel. Ihr Herz schlug schneller, so wie früher, als sie die ersten Male Felix in seiner Dachkammer besucht oder die Elektrisiermaschine bedient hatte, um tote Frösche zucken zu lassen. Der Wind klatschte ihr die Haarsträhnen vors Gesicht und in den Mund, während ihre Erwartung wuchs. Gerade noch rechtzeitig waren ihre Augen wieder frei, um zu sehen, wie eine der eintönigsten Wellen überhaupt ihre grandiose Entdeckung fort trieb und in rein Garnichts auflöste.
    Es ließ sich nicht vermeiden, dass sie öfter zu der dunklen Gestalt mit dem schwarzen Hut hinübersah als nötig. Sei es nur, weil sie es auf keinen Fall verpassen wollte, falls sein Hut doch noch ins Wasser fiel. Was trieb Hochstettler dazu, seine Bibel unten bei seinen Werkzeugen in der Kiste zu lassen und ebenso wie sie, bis es dämmerte und die Kühle unangenehm unter die Kleider kroch, das Meer zu studieren? Die Frage nagte an ihr. Und sie versuchte, sie sich gehässig und borniert zu beantworten. Nämlich dass er darauf wartete, dass die Wellen sich teilten oder um erste Anzeichen der nächsten Sintflut zu entdecken.
    Dass sie selbst einen für eine Dame unvorteilhaften Anblick bot, denn ihre Schminke war durch die feuchte salzige Luft aufgeweicht, kam ihr nicht in den Sinn.
    Beide verließen sich darauf, dass Uri auf Sarah und Jakob aufpasste, und flohen so oft es nur ging aus dem dunklen Schiffsbauch zu den schrubbenden und grinsenden Matrosen an Deck. Groß war es nicht. Es hatte höchstens drei oder vier Mal die Maße der Mistgrube, die Samuel mit Uri auf dem Hofplatz gemauert hatte. Jetzt würde er nicht mehr erleben, wie der Weizen und der Hafer gedüngt durch die fette Jauche besser denn je wuchsen und die Ähren sich dick mit Körnern bogen. Versunken in diese Erinnerungen entging Samuel jedoch nicht, dass sich ein Mann Charlotte näherte und sie mit einer knappen Verbeugung begrüßte. Der erste Steuermann, Mr. Abercrombie. Was die beiden redeten, verschluckte der Wind. Aber er sah, dass Charlotte lebhaft gestikulierte und redete. In der fremden Sprache. Samuel Hochstettler

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