Der elektrische Kuss - Roman
missioniert.«
Sarahs Kieselsteinaugen wurden schwerer.
Männer trieben Schweine, die quiekend schrien, über schmale Stege auf die Schiffe. Netze voller Hühner, Kapaune und Gänse, die ihre Hälse durch die Maschen schlängelten und fauchten, wurden von Karren gezogen und dann ebenfalls verladen. Zu ihren Füßen lagen zermalmte Zitronen und Feigen. Zum ersten Mal gingen sie als Gruppe, eng beieinander, zusammengepresst von der Kakophonie der Geräusche und der Heftigkeit dieser monströsen, geschäftstüchtigen Stadt. Urplötzlich fiel von irgendwoher und nur ganz knapp an Charlottes Schulter vorbei ein Sack auf den Boden. Wenn Hochstettler sie nicht blitzschnell zur Seite gedrückt hätte, wäre mehr passiert, als dass sie nur über die herausspringenden Kaffeebohnen stolperte. Für einen Moment blieb ihre Hand an seinen Ellenbogen geklammert und sie spürte durch den groben Wollstoff, wie unangenehm ihm die Berührung war. Sofort ließ sie los, ein Blick, ein Dank, Hochstettler nickte. Sie gingen hintereinander weiter. Charlotte strich Jakob, der auf Uris Arm thronte, über den Kopf. Nein, nein, alles sei gut, ihr sei nichts passiert. Auch Sarah nickte, lächelte.
»Gott sei es gedankt«, sagte Uri, und diese Worte strahlten bis zu seinen Ohren hinauf.
»Gott sei es gedankt«, murmelte Hochstettler möglichst unbeteiligt und schaute, ob die Burschen, die den Karren mit ihrem Gepäck zogen und ihnen gleichzeitig den Weg weisen sollten, noch da waren.
Sie kamen an Tischen dick bepackt mit Austern vorbei, vor denen Hausfrauen und Mägde schäkerten und keck und selbstbewusst um die Preise feilschten. Unvorstellbar in Kirchheim. An anderen Ständen hingen und schepperten irdene Krüge, Pfannen und Messer. Am hellen Tag tranken Männer und auch Frauen aus Flaschen, saßen und lagen auf der Erde und lallten. Irgendwo knallten Peitschen, dass es in den Ohren schmerzhaft nachpfiff. Und immer wieder diese Möwen, die gellend herabstießen und sich herumliegende Fischköpfe schnappten. Ihre kleine Gruppe wurde angerempelt, begrabscht, aber kaum eines Blickes gewürdigt. Denn die Masse der Menschen, in der sie sich bewegten, war so bunt und gemischt, dass weder eine aufgeputzte Adelige noch ein paar einfache Täufer auffielen. Von weitem machte Samuel sogar eine Gruppe Frauen aus, deren Kleidung den Schwestern seiner Gemeinde ähnelten, ob sie Knöpfe oder Haken trugen, konnte er aber nicht erkennen. Auch Sarah entdeckte diese Frauen. Sahen sie ihr an, dass die Meidung über sie verhängt worden war? Ein Fass fiel donnernd um. Sarah schlug sich beide Hände vor die Augen. Diese furchtbar laute Welt. So laut, dass sogar ihre Augen schmerzten. Sie wollte nichts mehr von dieser Welt sehen und schon gar nichts hören. Und das alles, weil sie getanzt hatte.
Aus einer Gasse kam ihnen ein großer, ganz in Schwarz gewandeter Herr mit schwerem weißen Bart und schwarzem Hut entgegen. Vornehm, begütert, aber doch schlicht, auf keinen Fall, wie es Samuel schien, ein eitler Weltmensch. Es musste einer dieser Quäker sein, die man in Deutschland abfällig Zitterer nannte. Auch William Penn war ein Quäker gewesen, der bis in die Pfalz gereist war, um ehrliche und gottesfürchtige Siedler für seine amerikanische Kolonie »Insull Phanien« am Delaware Fluss anzuwerben, die ihm die englische Krone gegen ihre Schulden bei ihm verschrieben hatte. Obwohl der holländische Herr ihn nicht wahrnahm, im Gegenteil, sogar rasch vorüberschritt und um die nächste Ecke bog, wurde es Samuel etwas wärmer ums Herz.
Je mehr sie ins Zentrum kamen, desto schmalbrüstiger und höher wurden die Häuser. Zu ihrem Erstaunen waren sie ganz und gar aus dunkelroten Ziegelsteinen gebaut, unverputzt, dafür oft mit prächtigen Giebeln. Die Besitzer, die so reich wie ihre Häuser sein mussten, gingen, auch das fiel ihnen auf, weitaus entschlossener und geschäftiger, als es die Adeligen oder wohlhabenden Bürger ihrer Heimat zu tun pflegten. Erschöpft und benommen von den neuen Eindrücken, obwohl sie gerade mal eine viertel Stunde unterwegs gewesen waren, kamen Charlotte und die anderen in der »Schwarzen Tulpe« an, dem Gasthof, den Abraham Grünstein als sauber und seriös empfohlen hatte.
Gleich nach dem Aufstehen am nächsten Tag seilte sich Charlotte ab. Wieder mit mondänem Hut und entsprechender Geste ließ sie sich eine Mietkutsche vor den Gasthof kommen. Die paar Münzen, die sie noch besaß, reichten gerade aus, um die Fahrt in eine der
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