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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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Rotterdamer Judenstraßen zu zahlen. Zwei Stunden später hatte sie die ersten Schmuckstücke ihrer Mutter zu Geld gemacht und kehrte dementsprechend aufgedreht zurück. Sie spazierte in die Küche der »Schwarzen Tulpe«, fingerte ein Goldstück aus einer Rocktasche und bestellte Kaninchenleber, Geflügel in Orangensauce, Langusten, verschiedene Muschelsorten in Knoblauch und Pfefferbrühe gedünstet, geräucherten Aal, Artischocken, gebratene Scholle, Radieschensalat, Nüsse, kandierte Früchte, Konfekt und Buttertorten in solchen Mengen, dass der Wirt zuerst meinte, er hätte das ausländische Fräulein nicht richtig verstanden, dann aber weitere große Geschäfte witterte, einen Bückling nach dem anderen machte und die gewünschten Delikatessen umgehend besorgen ließ.
    Hochstettler weigerte sich strikt, Charlottes Einladung anzunehmen. Er saß bereits an einem der Tische in der Gaststube, stand aber sofort wieder auf, als er erfasste, was sie vorhatte. Sein Blick durchschnitt den abgegriffenen Vorhang, der die Gaststube von der Küche trennte und durch den Charlotte nach letzten Absprachen mit dem Koch gerade trat. Streng wie ein Erzengel richtete er das Wort an sie. Die Barthaare züngelten.
    »Solche wollüstigen Prassereien gab es auch nicht am Tisch des Herrn.«
    Stirnrunzelnd überlegte Charlotte, ob Jesus und seine Jünger außer Brot überhaupt etwas anderes gegessen hatten, bevor sie erwiderte:
    »Aber doch nur ein bisschen Braten und Süßes. Heißt es nicht immer, ein gutes Essen hält Leib und Seele zusammen?«
    Dass dies nicht die intelligenteste und schon gar nicht geschickteste Antwort war, um einen Spielverderber wie Hochstettler zu ködern, war ihr sofort klar. Dementsprechend prompt kam seine Retourkutsche.
    »Das Fleisch vergiftet leicht die Seele.«
    »Ich dachte, Ihre sei unsterblich!«
    Das klang tatsächlich giftig. Denn sie hatte keine Lust mehr, sich länger zusammenzureißen. Das Feilschen mit den geschäftstüchtigen holländischen Juden hatte sie genug angestrengt. Außerdem war sie ihrer Meinung nach Hochstettler in der letzten Zeit schon mehr als genug entgegengekommen. Hatte er nicht ihr Versöhnungsangebot bemerkt? Den großen Hut, der ihr Haar fast ganz verbarg. Warum musste er jetzt wieder seine aufgeblasene, selbstgefällige Frömmelei herauskehren? Charlotte verdrehte demonstrativ die Augen, ließ sich auf einen der Stühle fallen, angelte sich einen Hühnerschlegel von der Platte, die gerade aus der Küche angeschleppt wurde, und biss missmutig in das saucentriefende Fleisch.
    Sarah und Uri mussten auf Hochstettlers Geheiß mit ihm den Raum verlassen. Sofort! Jakob fing an zu weinen, denn seine kleinen dicken Hände hatten schon nach einer der Würste gegriffen und wollten sie nicht mehr hergeben. Und Sarah hätte gerne noch länger stumm in den Kasten hineingeschaut, der in einer dämmrigen Ecke der Gaststube an der Wand hing. Hinter fettigem, schon lange nicht mehr geputztem Glas befand sich ein wunderliches Geschöpf. Sarahs Mund berührte fast die Scheibe. Eine Frau. Zumindest teilweise war es eine Frau. Haare, die sicher einst leuchtend rot gewesen, aber jetzt stumpf ausgeblichen und etwas fadenscheinig waren, flossen um ein Puppengesicht. Sie lächelte, doch eher hintergründig, fand Sarah. Das Weiblichste an ihr aber waren zwei üppig wogende Brüste, die wie überzuckerte Marzipanverzierungen aus dem weißen, ziemlich grob geschnitzten Oberkörper herausragten. Ab der Taille abwärts jedoch, und darüber staunte Sarah besonders, verwandelte sich die Frau in einen Fisch.
    Goldgrün schuppig bog sich der kräftige Schwanz und teilte sich am Ende in zwei weich und träge wedelnde Flossen. Die Arme hielt das Wunderwesen weit gespreizt. Einladend. So als ob sie gleich jemanden umarmen wollte. Einen Mann. Wen sonst. Der Gedanke traf Sarah wie ein Blitz. Und sie fragte sich als nächstes, ob es solche Frauen in Holland tatsächlich gab und ob auch anderswo in der Welt Frauen Fischschwänze unter ihren Röcken trugen. Sarah gefiel diese Frau sehr gut. Besonders der Schwanz. Aber wenn sie nicht so schön gewesen wäre, hätte man sie wohl auch nicht in einem Guckkasten ausgestellt. Mit gesenktem Blick und summendem Kopf folgte Sarah ihrem Vater widerwillig aus der Gaststube.
    Hochstettler ließ seiner Familie nur ein karges Mahl, das hauptsächlich aus Brot und Käse bestand, auf die Zimmer bringen. Die unausgesprochene, aber letztlich durch Sarah erzwungene Übereinkunft

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