Der elektrische Kuss - Roman
verdauen. Sodass Charlotte ihren Unterricht mit den Yoder-Söhnen fortsetzen konnte. Besonders Ruben, der mittlere, stellte sich als erstaunlich flink im Kopf heraus. Er hatte das Alphabet an zwei Nachmittagen gelernt und entzifferte jetzt mit seinem einen gesunden Auge Buchstabe für Buchstabe die Schöpfungsgeschichte. Als er bei der Schlange und dem Baum der Erkenntnis angekommen waren, grinste Charlotte spöttisch, aber keinem außer Samuel fiel es auf. Und weil er gerade Rebecca auf dem Arm hielt, küsste er die Kleine mehrmals auf die kleinen Schneckenhausohren und hoffte, dass ihre Mutter sein Zeichen verstehen würde.
»… und sie sahen, dass sie nackt waren, und schämten sich sehr.«
Ruben hatte den Satz in einem Rutsch geschafft und schaute strahlend in die Runde der Erwachsenen.
»Sehr gut, sehr gut. Wenn du so weiter machst, brauchen wir für dich bald mehr Bücher«, lobte Charlotte und dachte an Grays »Philosophical Transactions«, die oben auf dem Dachboden unter dem fliederfarbenen Seidenstoff schlummerten. Aber dieses Buch verbot sich als Lektüre. Die Witwe würde zwar nicht den wissenschaftlichen Zusammenhang verstehen, aber doch genug, um sie samt der kleinen Rebecca aus dem Haus zu werfen. Barmherzigkeit hin oder her.
»In Ephrata haben sie viele Bücher, fromme Bücher.« Das Gesicht von Sarahs jungem Verehrer glühte vor Stolz, etwas Wichtiges mitteilen zu können.
»Ephrata was?«
»Der Ort, wo Josefs Mutter im Kindbett starb«, murmelte Barbara Yoder, »nachdem sie Benjamin noch das Leben geschenkt hatte. Nicht weit von dem Stall in Bethlehem, wo unser Herr Jesus Christus geboren wurde.«
»Von Tulpehocken über Womelsdorf fünfzehn bis maximal zwanzig englische Meilen direkt am Cocalico Creek, da liegt Ephrata«, präzisierte Johann Stutzman die Angaben der Witwe.
»Jetzt musst du uns aber unbedingt erzählen, welche Bücher sie dort haben«, sprang ihm Charlotte zur Seite. Es stellte sich jedoch heraus, dass Johann Stutzman selbst noch nie an diesem seltsamen Ort gewesen war. Nur vom Hörensagen wusste er, dass die, die dort lebten, auch Täufer waren. Aber andere als die Amischen.
»Dunkers nennen wir sie, weil sie sich gegenseitig beim Taufen in den Fluss tauchen. Sie leben sehr fromm und wie wir abseits von der Welt. Und sie sind enorm fleißig. Sie haben fünf Mühlen in Ephrata, habe ich gehört. Eine ist aber abgebrannt, und sie mussten sie erst wieder aufbauen. Wenn das die Brüder nicht aufgehalten hätte, wären sie mit dem dicken Buch sicher schon früher fertig geworden. Peter Miller hat es großartig ins Deutsche übersetzt. Er soll vierzehn Sprachen verstehen, vierzehn, das muss man sich mal vorstellen, Latein und Arabisch auch. Mein Vater kennt ihn von früher. Miller war nämlich mal Pastor der Reformierten in Shippack. Und nach Shippack treibt mein Vater immer seine Rinder zum Verkauf, weil der Viehhändler dort am meisten zahlt.«
Erfrischend wie Quellwasser sprudelten die Worte aus Johann heraus, und Charlotte war sich sicher, dass genau das Sarah gut tat.
»Und welche Bücher haben sie dort?«, hakte sie nach.
»Bücher? Ach ja, genau. Sie drucken sogar Bücher in Ephrata. Zwölfhundert mal das gleiche Buch. Kaum zu glauben oder? Zwölfhundert Bücher. Mit, ich weiß nicht, wie vielen tausend Seiten zwischen den Deckeln.«
Charlotte und Samuel fixierten den jungen Mann. Das, was er berichtete, war in der Tat mehr als ungewöhnlich. Aber es war dann erstaunlicherweise Sarah, die mit leiser, unüberhörbar liebevoller Stimme die entscheidende Frage stellte:
»Und wie heißt denn dieses besondere Buch, Johann?«
»Na, der › Märtyrerspiegel ‹ .«
Kapitel 12
E ndlich tollten von einem Tag auf den anderen trockene lauwarme Lüftchen wie läufige Katzen um das Haus und verfingen sich jaulend im Kamin. Die Hühner durften aus dem Kuhstall, pickten die ersten Würmer, die aus der Erde krochen, legten wieder jeden Morgen Eier und flatterten danach sofort in die Äste des großen Baumes, von dem Charlotte noch immer nicht wusste, wie er hieß, weil auch die Witwe seinen Namen nicht kannte, und blieben dort den ganzen Tag. Als der junge Mann endlich seinen ganzen Mut zusammennahm und um die Hand Sarahs anhielt, sagte Samuel ohne Zögern ja und Amen. Nicht einmal mit dem Ältesten der Gemeinde am Maiden Creek besprach er sich. Denn er wollte seine Abreise nicht unnötig verzögern. Die Zeit drängte ohnehin, wenn er bis zur Aussaat wieder zurück auf der Farm
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