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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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sein wollte. Dass der Junge Sarah gut tat, lag auf der Hand. Man brauchte nur die Wörter zu zählen, die sie Tag für Tag mehr sprach. Umgekehrt war Johann so redselig, dass eine schweigsame Frau sich gut an seiner Seite machte. Außerdem konnte er arbeiten.
    Samuel hatte den jungen Mann das restliche Getreide dreschen lassen. Viel war es ohnehin nicht, denn nach dem plötzlichen Tod Aarons waren nur zwei Felder bestellt worden. Danach musste er die beiden Pferde beschlagen, alle Räume tünchen und schließlich, als aller Schnee vom Dach gerutscht war, hinaufklettern und schadhafte Schindeln austauschen. Das genügte, um Samuel endgültig zu überzeugen. Er und sein künftiger Schwiegersohn gaben sich die Hand und waren im Wort. Der » Märtyrerspiegel « sollte Samuels Hochzeitsgeschenk für die beiden sein, aber im Grunde ging es ihm darum, Gewissheit zu bekommen. Dass nämlich ein Buch, das all die Leiden der wahrhaften Christen beschrieb und bislang nur auf Holländisch erschienen war, tatsächlich mitten in der Wildnis in deutscher Sprache und gleich massenhaft zu erwerben war. Wenn das nämlich so war, dann wäre dies der endgültige Beweis, dass Gott ein bislang eher vages Versprechen einlöste: Pennsylvania war das gelobte und verheißene Land.
    Der Anblick der hohen Häuser mit schwindelerregend steilen Dächern, die plötzlich hinter einem Hügel auftauchten, verschlug Samuel den Atem. Er saß ab, führte sein Pferd am Zügel und ging, den Kopf in den Nacken gelegt, auf das erste Gebäude zu, das größer als manche der Kirchen war, die er in der Pfalz, freilich nur von außen, gesehen hatte. Mit grüngrauen Schindeln verkleidet glich seine Bauweise der der Iren, Schotten und Engländer. Die kleinen, unregelmäßig angeordneten Fenster waren wiederum nur bei den Deutschen Brauch. Bis zu den obersten Dachluken zählte Samuel fünf Stockwerke. Zögerlich ging er weiter, noch mehr Gebäude rückten in sein Blickfeld, Geräusche von Sägen und ferner menschlicher Stimmen drangen an sein Ohr. Was sich schließlich auf einer großen Lichtung mitten im Urwald vor ihm auftat, war fast eine Stadt. Aber so ganz anders als Philadelphia, Rotterdam oder auch Kirchheim.
    Erst als sein Pferd wieherte, bemerkte er, die absonderliche, ganz und gar weiße Gestalt auf ihn zueilen. Nur der Bart verriet den Mann. Der Kluft nach, die bis zu den Fußknöcheln reichte und lose um den dünnen Körper flatterte, hätte es auch eine Frau sein können. Das Gesicht wirkte wie aus einer anderen Welt, blass, eingefallen, abgezehrt und gleichzeitig so arglos wie das eines spielenden Kindes. Samuel versuchte, ein paar Worte in englischer Sprache zu sprechen. Was ihm noch immer nicht leicht fiel und ihm deshalb peinlich war. Sofort unterbrach ihn der Mann auf Deutsch, begrüßte ihn herzlich, nahm ihm sein müdes Pferd und einen Brief ab. Den Brief, den Charlotte an Herrn Dr. Felix Schubart, Hofsekretär in Kirchheim, Fürstentum Nassau-Weilheim, adressiert hatte, und versprach, ihn der nächsten Postkutsche nach Philadelphia mitzugeben. Samuel wurde an weiteren, nicht mehr ganz so hohen Häusern und weiteren sanften Kindergesichtern mit Bärten vorbeigeführt und schließlich durch eine Tür bugsiert und auf einen Stuhl gedrückt. Man ging hier sehr routiniert mit Besuchern um, hatte er den Eindruck.
    Der Raum, in dem er saß, war nicht klein, wirkte aber so, weil sich überall, in Wandregalen, auf den Fensterbänken, sogar auf dem Fußboden, Bücher und Papiere stapelten. Samuel hatte nicht geahnt, dass es mittlerweile so viel bedrucktes Papier auf der Welt gab, und versuchte von seinem Platz aus, die Titel auf einzelnen Buchrücken zu entziffern, in der Hoffnung, den » Märtyrerspiegel « zu entdecken. Aber vieles war in anderen Sprachen, sogar in merkwürdigen geschweiften Zeichen geschrieben. Für eine Weile putzte er sich die Fingernägel, spuckte auf sein Taschentuch und rieb sich damit seine Stiefel einigermaßen blank. Schließlich stand er auf. Es war nicht Neugier, sondern das Bedürfnis nach einem frommen Text, der ihn veranlasste, das eine oder andere Buch zu nehmen und mit gehörigem Respekt aufzublättern. Die Namen Luther, Calvin und Zwingli sprangen ihm ins Auge. Er überflog theologische Erörterungen, von denen ihm einige bekannt, andere aber erschreckend widersprüchlich, manche sogar provozierend ketzerisch vorkamen. Dabei hatte Johann doch gesagt, dass in Ephrata fromme Täufer lebten. Die Ältesten, egal ob von

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