Der elektrische Kuss - Roman
er wieder einmal den Arm ellenbogentief in die Kuh gebohrt und einen schleimigen Fuß und dann schließlich das Ganze mitsamt dem kantigen Kopf herausgezogen hatte. Dann erst sprach er Charlotte an:
»Ein gesundes Kind. Sie sieht ganz so aus, als ob sie diesen und die nächsten Winter überleben wird. Gottes Segen ruht auf ihr. Mach nur weiter so, du verstehst was vom Kinderkriegen.«
Unvermittelt klatschte er sich auf die Knie und brach in schallendes Gelächter aus und mit ihm alle seine Schwestern und Brüder. Charlotte wusste nicht, wie ihr geschah. Einen Blickwechsel mit Samuel wagte sie nicht, und Sarah war zu beschäftigt, auf die Stiefel eines jungen Mannes zu starren, der neben ihr stand. In dem Moment schlug das Baby seine winzigen Augen auf, und sofort traten alle noch einen Schritt näher und kreisten Charlotte, die mit dem Bündel im Arm auf einem Hocker saß, regelrecht ein. Dabei entging ihr nicht, dass Barbara Yoder ganz nahe bei Samuel stand und sich auf ihren Wangen ein hektischer roter Glanz ausbreitete, der ihr zugegebenermaßen gut stand. Eckig war sie aber trotzdem noch. Ob Samuels Jacke ihre Hüfte absichtlich berührte oder ob er von seinem Nebenmann geschubst wurde, konnte Charlotte angesichts der vielen Menschen nicht mit Bestimmtheit erkennen.
»Barbara sagt, dass mehr Milch kommen dürfte. Die Kleine scheint nicht mehr satt zu werden und weint immer bald wieder.«
Die Frau, die das sagte, hatte ein von vielen bitterkalten Wintern und heißen Sommern gerötetes Gesicht, stand aber aufrecht und froh wie ein junger Baum. Sie legte Charlotte ein Säckchen in den Schoß.
»Tee aus Kümmel, Anis- und Fenchelsamen. Lass ihn lange ziehen, trink mindestens vier Becher am Tag, und ich versprech dir, deine Brust wird bald überlaufen und die Kleine kugelrund werden.«
»Mit Rebeccas Tee habe ich jedes Mal mehr Milch als unsere Kuh gegeben«, rief eine helle junge Stimme.
Wieder lachten alle wie aus einem Mund. Kinder wie zahnlückige Alte. Charlotte stimmte zaghaft mit ein. Samuel nickte ihr kaum merklich zu. Die rissige Hand der Teespenderin streichelte die schwarzen Haare der Kleinen, und sie tauschten für einen Moment Blicke. Charlotte sah aus den braunen Augen so viel Güte auf ihre Tochter fließen, dass es für ein Leben reichen konnte. Der Älteste räusperte sich und sagte:
»Das ist Rebecca, Rebecca Lapp, sie ist 1737 auf der ›Charming Nancy‹ herübergekommen und hat dabei fünf ihrer sieben Kinder verloren. Fleißig wie sie ist, hat sie in der neuen Welt noch einmal sechs geboren.«
Auch wenn sie das Lob nicht ungern hörte, senkte Rebecca Lapp demütig den Kopf und verschwand wieder zwischen den anderen schwarzen Röcken. Ein drahtiges Männchen schob sich vor, mit einem Bart, der von den zerrrupften farblosen Flechten an den Wildnisbäumen abgeschnitten sein konnte. Seine Hand schüttelte Charlotte einen schlaksigen, rötlichen Schlauch vors Gesicht, der sich als Hals eines insgesamt noch seltsameren Federtieres entpuppte.
»Meine eigene Zucht. Saftig und schönes weißes Fleisch, du musst essen, viel essen.«
Sein Geschenk plumpste zu Boden und löste ein anerkennendes Gemurmel aus. Barbara Yoder bückte sich sofort danach und lobte:
»Ein Prachtstück von einem Truthahn! Nathaniel hat auch wirklich die besten weit und breit. Daraus mach ich uns einen schönen Braten.«
»Danke, danke.«
Charlotte räusperte sich, um ihren Dank noch einmal lauter zu wiederholen. Glücklicherweise konnte die Witwe mit der einen Hand nicht nur das monströse Vieh halten, sondern mit der anderen auch gleich noch die geräucherten Würste einsammeln, die ein junges Ehepaar umringt von einer Horde Kinder ihr schenkte. Charlotte musste sich sehr anstrengen, um nicht vor Rührung zu weinen. Irgendwer aus der Gemeinde fragte fröhlich:
»Wie heißt sie denn, dein kleines Mädchen?«
»Rebecca. Mit Gottes Gnade.«
Für diesen Satz musste sie sich gar nicht anstrengen. Er rutschte Charlotte so aus dem Mund.
Nach dem Besuch der amischen Gemeinde verbesserte sich das Verhältnis zwischen Barbara Yoder und Charlotte. Sie schafften es, freundliche Worte über die Kinder, den Wind oder den ab- und zunehmenden Mond zu wechseln. Charlotte verzichtete fast ganz darauf, hinter dem Rücken der Witwe Grimassen zu schneiden, um Sarah zum Lachen zu reizen. Dieser Waffenstillstand erleichterte das Zusammenleben auf engem Raum. Denn ein Blizzard nach dem anderen rollte über die Hügel von Berks County und
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