Der elektrische Kuss - Roman
peitschte den Schnee waagrecht gegen das kleine Steinhaus. Es wurde kaum noch hell.
Die Frauen und Kinder saßen fest. Nur Samuel verließ noch das Haus, und auch ihn kostete es alle Kraft, sich schräg vornüber gegen den Sturm zu lehnen und sich zum Stall durchzukämpfen. Wenn er dann vom Füttern, Ausmisten und Melken zurückstapfte, klebte jedes Mal dichter Reif auf seinen Augenbrauen und Wimpern, und sein Bart klirrte. Aber er schaffte es immer, den Holzeimer mit der kostbaren Milch so mit seinem Oberkörper zu schützen, dass nichts überschwappte. Barbara Yoder dankte ihm jedes Mal mit einem Lächeln, bei dem sie ihren Mund zaghaft öffnete. Und das sich auch in ihren braunen Augen bemerkbar machte.
Als der Schneesturm sich endlich legte, wurde es noch kälter. Die Balken im Haus knackten, und obwohl sie ununterbrochen Holz in den Ofen schoben, zogen die Bewohner des spitzgiebeligen Steinhauses abends ihre Kleidung nicht mehr aus und schliefen eng aneinandergekuschelt. Rebeccas gewaschene Windeln hingen steif an der Leine, und Charlotte band sich die Kleine mit einem Wolltuch, so dicht es ging, an die Brust. In drei aufeinanderfolgenden Nächten hörten sie Wölfe heulen, und Samuel, Sarah, Barbara und die Kinder knieten sich auf den Boden und beteten lange, dabei ging der Kerzenvorrat allmählich zur Neige. An einem Morgen, an dem die Sonne gleißend schien und das Weiß um sie herum so rein aussah, als wäre die Erde gerade eben erschaffen worden, fanden die beiden älteren Yoder-Söhne am Waldrand einen der Wölfe mit ausgestreckten Beinen und mit gebrochenen Augen gerade mal hundert Meter vom Haus entfernt. Es war ein älteres Weibchen, das offenbar zu geschwächt gewesen war und nicht mehr mit dem Rudel hatte mithalten können. Samuel und die Witwe zogen los, um das Tier, bevor sich Aasfresser über es hermachten, zu holen. Aus einem guten Wolfsfell ließ sich vieles machen.
Das war das erste Mal, dass die beiden allein waren. Noch dazu tanzte das Licht vielversprechend über den Schnee, sodass jeder Mensch dabei übermütig werden musste. Im Stechschritt ging Charlotte mit der Kleinen auf dem Arm die kurze Gasse zwischen dem offenen Feuer in der Küche und dem gescheuerten Tisch in der Stube hin und her. Sarah saß am Webrahmen, summte vor sich hin und war weit weg von der Ungeduld ihrer Freundin. Das Warten und der Galopp ihrer Phantasie waren eine zähe Qual. Endlich hörte sie Samuels und Barbaras Stiefel und die Last, die sie schleiften, im harschen Schnee knirschen. Vor allem sprachen sie, mit gedämpften Stimmen zwar, sodass Charlotte nichts verstehen konnte, aber verdächtig angeregt, lebhaft und viel. Ohne Umhang, sondern wie sie war in ihrem Kleid, riss sie die Tür auf, noch bevor die beiden ihre Stiefel abgeklopft oder den Wolf abgelegt hatten. Die Worte, die nach ihnen schnappten, waren nadelspitz wie die Zähne eines jungen Hundes.
»Jetzt kommt ihr erst! So spät! Die Kinder hatten schon Angst.«
Was eine glatte Lüge war, denn die drei Yoder-Söhne saßen um den Tisch und schnitzten ausdauernd an Holzstücken herum, während Jakob geduldig zu Sarahs Füßen mit Wollresten spielte. Die Witwe konterte mit einem finsteren Blick und ging betont langsam an ihr vorbei ins Haus. Unfähig sich zu rühren, blieb Charlotte in der eisigen Kälte stehen, hielt den Atem an und erwartete etwas von Samuel. Irgendetwas.
»Aber jetzt sind wir da und alles ist gut. Komm, du frierst doch gleich, und für die Kleine ist es sowieso zu kalt. Komm jetzt.«
Wie ein störrisches Kind schob er sie an den Schultern aus der Zugluft in die warme Küche hinein und schloss die Tür lauter, als es nötig gewesen wäre. Charlotte schämte sich entsetzlich. Seine Stimme hatte so besänftigend, so freundlich und doch so unverbindlich weit weg geklungen. So ganz anders als auf dem Schiff. Anders auch noch als in der Nacht auf dem Dachboden, in der er ihr seine Hand auf die Brust gelegt hatte. Nicht einmal in den Wald konnte sie laufen, Trost und Verwandlung unter den Bäumen suchen. So wanderten ihre Lippen stattdessen nur eine Handbreit nach unten und suchten Trost an Rebeccas flaumigem Kopf. Durchgefroren bis auf die Knochen stakste sie nach einer Weile in die Vorratskammer, schenkte sich mit steifen ungeschickten Fingern ein Glas Rum ein und trank, bis sie wieder Wärme in sich spürte.
Ihren Stolz und den Rest des Tages rettete Charlotte, indem sie irgendwann zu den anderen in die Stube ging und mit so ruhiger
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