Der elektrische Kuss - Roman
Stimme wie nur irgend möglich verkündete:
»Es wird Zeit, dass deine Söhne Lesen und Schreiben lernen. Wenn du willst, fange ich gleich morgen an, sie zu unterrichten.«
Barbara Yoder nahm das Versöhnungsangebot bereitwillig an.
»Aaron hat auch immer gewünscht, dass seine Kinder ihren Namen unter einen Vertrag setzen können.«
»Und wenn jeder Christ die Schrift selbst lesen könnte, stünde es um die Welt auch besser. Außerdem«, ergänzte Samuel, »sind sie dann noch besser auf ihre Taufe vorbereitet.«
Damit war die Sache abgemacht. Sarah stellte mit verträumtem Blick die Schüssel mit dampfendem Sauerkraut auf den Tisch und schnitt das gesalzene Fleisch, das niemand mehr riechen konnte.
Es blieb weiter sonnig und klar, aber auch die beißende Kälte hielt an. Trotzdem schaffte es Johann Stutzman, gebürtiger Pennsylvanier und Sohn eines zum Täuferglauben konvertierten Reformierten, auf dem Rücken seines Pferdes nicht nur nicht zu erfrieren, sondern auch bester Laune bis zu ihnen durchzudringen. Er gehörte zu der Gemeinde, die Charlotte nach der Geburt besucht hatte. Die Farm seiner Eltern lag ganz am Rand von Berks County, schon fast an der Grenze zu Lancaster County. Da Sarah ihm dieses Mal nicht nur auf die Stiefel schaute, nickten Charlotte und die Witwe Yoder fast gleichzeitig und viel schneller als Samuel, als Stutzman fragte, ob er mit dem Mädchen spazieren gehen dürfe. Die seltene Einigkeit der beiden Frauen hatte Gewicht.
Eine Stunde lang stapften die jungen Leute nebeneinander durch den Schnee, immer im Abstand von dreißig Fuß um das Haus herum. Eine Runde nach der anderen. Gelegentlich die Arme an die kalten Körper schlagend, während ihre Atemwolken hoch vor ihnen aufstiegen, das Licht bläulicher wurde und ihre Spuren spiegelglatt froren. Samuel hatte Jakob auf dem Schoß sitzen, las lauter und eindringlicher als sonst aus dem zweiten Buch Moses und hob kein Auge von den Seiten. Dagegen drehten Charlotte und die Witwe in einem fort die Hälse und spähten ungeniert aus jedem der kleinen Fenster, damit ihnen Sarah und der junge Mann nicht entgingen. Auch am darauf folgenden Samstagnachmittag kam der junge Mann geritten, und Sarah wanderte wieder an seiner Seite durch die Kälte. Ob sie sich dabei viel unterhielten, konnten die Beobachterinnen im Haus nicht sehen, denn die jungen Leute hielten die Köpfe gesenkt, weil der Wind sie hart wie Peitschenhiebe traf.
Als Sarah dann wieder am Webstuhl saß, konnte jeder an ihrem Gesicht ablesen, dass sie froh war. Die samstäglichen Besuche wurden zur festen Gewohnheit. Noch während sie neben Charlotte im Bett kauerte, striegelte Sarah ihr Haar, bevor sie es wieder flocht und versteckte, mit einer bei ihr ganz ungewohnten Inbrunst. Charlotte hatte plötzlich wieder das Bild des zauberhaften Mädchens vor Augen, das im Sprühregen ihrer erdbeerfarbenen Haare durch die Scheune tanzte.
Der Besuch kam auch noch, als es im Februar von einem Tag auf den anderen taute und der Matsch die Wege nahezu unpassierbar machte. Sarah hielt schon Stunden vorher nach ihm Ausschau. Die Sommersprossen auf ihrer Haut leuchteten dabei vielsagend und zimtfarbener denn je. Nach jedem Spaziergang wurde der junge Mann in die Stube gebeten und setzte sich noch für kurze Zeit auf die äußerste Kante der Bank, ließ die Krempe seines Huts nervös durch die Hände gleiten und beantwortete Samuels Fragen. Samuel nahm ihn regelrecht ins Kreuzverhör. Ob es stimme, was er gehört habe, dass die grauen Erdhörnchen, die doppelt so groß waren wie die Eichhörnchen in der Pfalz, im vergangenen Sommer zu einer Plage geworden seien und ganze Felder kahl gefressen hätten? Und dass man vom Gouverneur von Pennsylvania Geld bekomme, wenn man sie abschieße und ihr Fell abliefere, sei das tatsächlich wahr? Samuel fragte noch einmal nach. Der Junge nickte hartnäckig.
»Doch, ganz bestimmt, zwei englische Pence kriegt man pro Stück.«
»Zwei Pence? Ein Maurer in Philadelphia hat mir erzählt, dass er für einen ganzen Tag Steine aufschichten 18 Pence Lohn bekommt. So ein paar Eichhörnchen habe ich ja leicht in einer Stunde geschossen. Bist du wirklich sicher?«
»Ganz sicher, zwei Pence für ein totes Eichhörnchen.«
»Was für ein verrücktes Land. Daheim in der Pfalz hätten sie uns dafür die Behörden auf den Hals gehetzt. Die Viecher schmecken schließlich auch noch gut.«
Samuel lachte hell auf, hatte jedoch eine Weile damit zu tun, die Neuigkeiten zu
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