Der elektrische Kuss - Roman
seiner Pfälzer oder der hiesigen Gemeinde, hätten sicher viele dieser Bücher gleich ins Herdfeuer geworfen. Deshalb war Samuel erleichtert, als er ein in Philadelphia gedrucktes Buch mit einem ausgesprochen demütigen Titel entdeckte: »Poor Richard`s Almanach«.
Sein Englisch reichte inzwischen aus, um den Sinn zu verstehen. Er entschlüsselte gute Ratschläge für das alltägliche Leben, die nur ein sparsamer, fleißiger Mann gegeben haben konnte. So vertieft bemerkte Samuel nicht, dass mittlerweile jemand auf leisen Sohlen den Raum betreten hatte. »Wie man sein Haus vor Blitzschlag schützt« hieß eines der Kapitel in dem Almanach. Samuel überflog die ersten Seiten, und das Blut begann in seinen Ohren zu rauschen. Hier wurde tatsächlich etwas beschrieben, von dem Charlotte vor langer Zeit einmal im Pferdestall geredet hatte und das ihm als eine ihrer vielen wirren, wenngleich unbeabsichtigten Gotteslästerungen vorgekommen war. Das Ende des Metallstabes, so las er, sollte sechs oder sieben Fuß über den höchsten Punkt des Gebäudes hinausragen … das andere Ende in die Erde gehen. Dann, so versicherte der Autor, würde der Blitz sich leicht einfangen, ableiten und unschädlich machen lassen. Den Blitz einfangen wie eine Maus oder ein entlaufenes Schwein! Samuel bekam Gänsehaut. Hatte diese entsetzliche Einmischung in Gottes ureigenes Handwerk also schon den Atlantik überquert und auch das neue Jerusalem erreicht und vergiftet? Und wie kam es, dass sich diese Ideen ihren Weg an solch einen abgelegenen Ort schlängelten? Samuel atmete schwer. Die Bäume der Erkenntnis standen also auch hier schutzlos herum, und Schlangen, so hatte man ihm erzählt, gab es in der neuen Welt zuhauf. Überall Versuchungen, überall drohte der Sündenfall.
Noch mehr als das aber machte Samuel die Vorstellung Angst, wie Charlotte reagieren würde, wenn sie dieses Buch mit der Anleitung für einen Blitzableiter in die Hand bekäme. Er fühlte sich in dem Raum voller Bücher plötzlich verwirrt wie Judas im Garten Gethsemane.
»Ich sehe, du hast schon das neueste Werk meines Freundes Dr. Franklin entdeckt. Ein kleines Genie ist er schon, das muss ich zugeben, auch wenn er als Geschäftsmann eifersüchtig und ziemlich böse reagiert hat, als wir angefangen haben, ihm mit unserer Druckerei in Ephrata Konkurrenz zu machen. So was mag der liebe Dr. Franklin nämlich gar nicht. Habe ich dich erschreckt …?«
Hastig klappte Samuel das Buch zu und legte es zurück. Eine Antwort blieb ihm erspart, stattdessen fühlte er sich von einem großen Mann umarmt und geküsst. Blumenblaue Augen strahlten ihn durch runde Brillengläser an. Ein feines, ein kluges Gesicht. Haare, struppig und gelb wie die seines einstigen Hundes, standen vom Kopf und Kinn des Fremden ab. Samuel fasste sofort Zutrauen.
»Willkommen, willkommen bei uns in Ephrata, mein Freund.«
»Gott zum Gruß, ich heiße Samuel Hochstettler. Ich bin gekommen, weil ich gehört habe, dass hier bei euch der › Märtyrerspiegel ‹ auf Deutsch zu kaufen sei.«
Samuel räusperte sich und fügte zaghaft hinzu. »Ich hoffe, das stimmt.«
»Ja, ja, das stimmt, du bist nicht umsonst gekommen.«
Der Mann lachte tief und herzlich und legte eine Hand auf Samuels Schulter.
»Ich bin übrigens Peter Miller. Aber es hat sich herausgestellt, dass mein eigentlicher Name, der den mir Gott geben hat, Agrippa lautet. Begleite mich doch zur Druckerei, Henrich Funck und Dielman Kolb sind auch gerade aus dem Osten gekommen.«
Die vielen fremden Namen zirpten Samuel noch wie Zikaden im Ohr, als er über Kieswege gesäumt von Apfelbäumen vorbei an weiteren Häusern, Scheunen, Schuppen und Werkstätten geführt wurde. Alles wirkte gepflegt und mustergültig in Stand gehalten. Samuel spürte einen großen Frieden, der von jedem Leiterwagen, akkurat gebundenen Besen oder hoch aufgeschichteten Holzhaufen ausging. Diesen Frieden hatte er lange vermisst. Oder hatte er sich immer nur danach gesehnt? Samuel beeilte sich, seinem Führer auf den Fersen zu bleiben. Eines der Gebäude schien das Backhaus zu sein, in einem anderen vermutete Samuel den Geräuschen nach die Schmiede. Zu seiner großen Verwunderung entpuppten sich zwei Gestalten, die ebenfalls in weißen konturlosen Kutten steckten, als Frauen. Über ihre Köpfe hatten sie Kapuzen, die offensichtlich zur Tracht gehörten, gestülpt, sodass er ihre Haare nicht sehen konnte. Sie waren also fromme Täuferinnen, die sich an die Ordnung
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