Der elektrische Kuss - Roman
Steinstufe, die zur Haustür hinaufführte, bereitgestellt.
Von Zeit zu Zeit warfen die Frauen einen wachsamen Blick auf den Korb, in dem Rebecca krähte und strampelte. Wenn sie weinte, wurde sie herausgehoben, oft auch von Samuel, falls er in der Nähe war. Abwechselnd wiegten und küssten sie das kleine Mädchen und rieben seinen schmerzenden, triefenden Kiefer, bis es sich wieder beruhigte und zufrieden vor sich hin gurgelte. Seit Charlotte keine Schüler mehr hatte, weil die drei Yoder-Jungen auf den Feldern mithelfen mussten, verkroch sie sich wieder stundenlang in die Wälder. Meistens kam sie von ihren Streifzügen mit abgebrochenen Zweigen und Moos im Haar zurück. Die Arme voller dicker Sträuße gelb und cremeweiß blühender Rispen, die sie vom Zuckerahorn, Sassafrasbaum und einem anderen Baum, den die Witwe Yoder Dogwood nannte, abgerissen hatte. Ihr Kind wusste sie immer in guter Obhut.
An einem dieser ineinanderfließenden glücklichen Nachmittage unter einem blauen Glashimmel trug Samuel in seiner hohlen Hand ein winziges Etwas so sacht wie möglich zu Charlotte und Jakob, die zusammen mit dem Baby im Gras saßen. Dabei meldete sich jäh sein schlechtes Gewissen. Er hätte ihr das Buch vielleicht doch nicht verschweigen dürfen, in dem so unbekümmert von Blitzen die Rede war und wie man sie in die Erde ableiten und wegsperren konnte, als ginge es um ein Rezept für Hefekuchen. Die Gründe, warum er ihr nichts von diesem in Ephrata frei zugänglichen Wissen erzählt hatte, hingen zweifelsfrei mit seiner Angst zusammen, dass auch Charlotte Gottes Himmel ausplündern könnte. Aber auch mit seinen immer noch gelegentlich hochkommenden Sehnsüchten nach ihrem offenen Haar und ihren verborgenen Achselhöhlen. Er argwöhnte, sie könnte wieder ihrer eigenen Wege gehen. Diese Gefühle lagen über Kreuz mit ganz anderen, kaum benennbaren, aber noch mehr nach Erfüllung drängenden Sehnsüchten. Das machte alles sehr kompliziert. Er wünschte, er könnte Charlotte erklären, was ihn so in Beschlag nahm. Ob sie es verstehen würde, bezweifelte er allerdings.
Aber vielleicht half ihm dabei das Geschöpf in seiner Hand, dessen Herzschlag er deutlicher spürte als seinen eigenen. Auf sein Zeichen öffnete Charlotte die Hände, und er ließ es hineinrutschen.
»Huch, was ist denn das? Einer dieser winzigen Vögel? «
»Genau, Hummingbird nennen die Engländer sie, die Deutschen sagen Kolibri.«
»Wirklich eigenartig, ach was, einzigartig, meine ich.«
Meinte sie den Vogel, dessen Gefieder im Sonnenlicht vielfarbig, an Hals und Brust metallisch rot, aufleuchtete oder Samuels Augen, neuerdings verschleiert? Die Einschlüsse in ihnen waren eindeutig zahlreicher, aber undeutlicher geworden. Charlotte versuchte, sie zu zählen. Doch er blinzelte, wandte seinen Blick von ihr ab und bestaunte stattdessen zusammen mit seinem Sohn das verängstigte Wunderwesen. Während Jakob mit dicken kleinen Fingern den Kolibri antippte und auflachte, legte sich auf das Gesicht seines Vaters ein andächtiger Ausdruck. Mit belegter Stimme, verschwörerisch wichtig wie früher die Spione ihrer Mutter am Kirchheimer Hof, raunte Samuel: »Sie bauen ihre Nester mitten in Blumenstöcken. Außerdem fliegen sie wie Bienen in die Blüten hinein und benutzen ihren Schnabel, schau doch mal, wie lang er im Verhältnis zu seinem Körper ist, wie einen Strohhalm, um sich den Nektar zu holen. Einmal habe ich gesehen, wie einer blitzschnell seine Zunge zum Saugen herausgestreckt hat.«
»Was du nicht alles weißt.«
Was hätte sie auch sonst antworten sollen? Mehr zu diesem Getue um einen zugegebenermaßen außergewöhnlich kleinen, aber doch wieder ganz und gar vogelhaften Vogel fiel Charlotte nicht ein. In ihrer Hand piepte es sehr hoch und sehr ängstlich. Samuels Augen wurden runder, sein Mund öffnete sich, und Charlotte fragte sich, ob er darauf wartete, dass dieser Vogel ihm gleich eine wichtige Botschaft zupfiff. Das bestätigte nur den Verdacht, den sie seit einer Weile hegte. Samuel veränderte sich. Dabei hatte sie ihm genau das verbieten wollen.
Sein himmelschreiender Starrsinn, für den sie ihn oft an Kopf-und Barthaaren hätte ziehen wollen, war fast restlos verflogen. Die erzengelhafte Strenge in seinem Gesicht schmolz mit dem allerletzten Schnee in den nordseitigen Mulden. Lange Passagen aus der Bibel, Buchstabe für Buchstabe genau, mit der festen Überzeugung in der Stimme, das Jüngste Gericht könne jeden Moment auf dem
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