Der elektrische Kuss - Roman
Hügel gegenüber dem spitzgiebligen Haus beginnen, kamen ihm kaum noch über die Lippen. Stattdessen hatte sich irgendetwas in sein verworrenes Vogelnest von Bart eingenistet, das ihn mit einer kuhäugigen Heiterkeit umgab. Diese zog eine unsichtbare Mauer um hin und sperrte sie mehr aus, als es der unerbittliche Anabaptist getan hatte.
Als ihr Samuels Wandlung zum ersten Mal auffiel, kontrollierte sie umgehend den Bestand an Rumflaschen im Keller. Aber Fehlanzeige, er trank nicht heimlich. Charlotte musste weiterrätseln.
In der Welt, aber nicht von dieser Welt seien die Täufer, hatte ihr Uri einmal während der fauligen Tage auf der »Good Intent« verraten. Da hatte der Junge aber schon gefiebert. Bislang war ihr Samuel trotz aller knopflosen Frömmigkeit immer sehr irdisch vorgekommen, irdischer jedenfalls als alle anderen Männer, die sie näher kennengelernt hatte. Und nach wie vor ging er mit festen Schritten durch Haus, Stall und Scheune, hämmerte hier, hämmerte da, schnäuzte sich, trank einen Krug frisches Quellwasser in einem Zug leer, wobei ihm kleine Bäche rechts und links aus dem Mund rannen, schaufelte große Portionen Fleisch und Käse in sich hinein. Er war sogar umtriebiger denn je. In den vergangenen zwei Wochen hatte er von früh bis spät gesät, eingewalzt, Zäune gezimmert und ein weiteres Stück Wald gerodet.
Dennoch kam er ihr von Tag zu Tag ein klein wenig mehr in Auflösung begriffen vor. Einmal erschrak sie sehr, weil er als schwerelose dunkle Wolke auf der Bank saß. Da hätte ich ihn anfassen sollen, dachte sie im Nachhinein. Aber irgendetwas hatte sie zurückscheuen lassen. Auch die berührungslose Berührung gelang nicht mehr zwischen ihnen beiden. Schon lange nicht mehr. Würde Samuel irgendwann ganz verschwinden oder sich in eine Art Fluidum verwandeln, das geräuschlos und unsichtbar floss? Charlotte seufzte. Samuel war komplizierter als die elektrische Wissenschaft geworden. Aber warum um Himmels Willen lächelte er fast pausenlos? Auch wenn neben ihm eine Kuh geräuschvoll urinierte oder sich die Raben einen Teufel um die neuen Vogelscheuchen scherten und weiter Kleesamen vom Acker pickten.
Nachdem sich ihr Verdacht mit dem Rum als unbegründet erwiesen hatte, vermutete Charlotte als Nächstes, es läge an Samuels Erleichterung, weil er es endlich hinter sich gebracht und der Witwe Yoder gesagt hatte, dass es aus diesen und jenen, im Grunde aber nicht aussprechbaren Gründen nichts würde mit ihnen beiden. Eine Wendung, über die sich Charlotte weniger freute, als sie noch im Winter gedacht hatte. Genau genommen freute sie sich überhaupt nicht. Denn Barbara wäre berechenbar gewesen und somit Samuel mit ihr zusammen auch. Doch sein nebulöser Zustand hielt an. Gelegentlich bewegten sich seine Lippen. Erzählte er, sang er? Aber kein Laut war zu hören. Charlotte sah ein, dass es andere, geheimnisvollere Gründe geben musste. Dementsprechend lauernd beobachtete sie den Mann, mit dem zusammen sie einmal einen funkensprühenden Kondensator gebildet hatte.
»Samuel, du glotzt diesen Vogel an, als wäre er direkt aus der Bibel gehüpft.«
Der Kolibri schwirrte mit seinen Flügeln, und an Charlottes Handflächen kitzelte es. So wie früher, als ihr Geliebter sich hineingeschmiegt und sie seinen Wimpernschlag gespürt hatte. Jetzt ignorierte Samuel sogar ihren Spott. Ärger stieg in ihr hoch.
»Hörst du mir überhaupt noch zu? Seit wann fängst du jetzt Vögel? Hat das was mit dem › sie säen nicht und sie ernten nicht ‹ zu tun?
In Charlottes Stimme lag eine kalkulierte Schärfe, mit der sie seine unsichtbare Hülle aufzuschneiden hoffte. Und tatsächlich, Samuel schaute verdutzt. Als ob er gerade aus der Tiefe eines moorigen Teiches an die Oberfläche gepaddelt wäre und sich erst orientieren müsste. Es gelang ihm offensichtlich, und er legte sich seine Worte sorgfältig zurecht.
»Ich habe ihn gar nicht gefangen, dazu sind sie viel zu schnell. Dieser hat auf mich gewartet«
»Auf dich gewartet?«
Charlotte schluckte. Die Absurdität des Gespräches war kaum erträglich. Zum Glück piepte der Kolibri erneut und wieder sehr hoch. Rebeccas Fäuste wedelten durch die Luft, und das kleine Mädchen hob neugierig den Kopf von der Decke. Samuel nickte.
»Na ja, eigentlich hatte er sich in einem Spinnennetz verfangen. Aber …« Samuel räusperte sich und leckte erregt über seine Lippen: »… ich bin mir sicher, das ist nur passiert, weil ich inständig um ein neues
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